Webwecker Bielefeld: Die Kirschen hängen hoch (04.10.2006)

Die Kirschen hängen hoch (04.10.2006)





Von Manfred Horn

Vielleicht war es keine gute Idee, dass Intendant Michael Heicks neben dem ganzen Stress mit der Fertigstellung und Eröffnung des umgebauten Stadttheaters auch gleich die erste große Schauspielinszenierung im frisch ummodellierten Haus übernahm. Denn die Inszenierung des Tschechowschen Kirschgartens wirkt, auch im Vergleich zur Zurschaustellung des Tschechow-Stückes Platonow, vor zwei Jahren ebenfalls von Heicks inszeniert, nicht fertig.

Das Premierenpublikum am Freitag Abend reagierte herzlich und freundlich, doch die großen Ovationen blieben aus. Aus der Bühne des Stadttheaters wurde kein Kirschgarten, eher ein in zwölf Stücke geschnittener Kirschkuchen. Sichtbar war das Bemühen, dem Publikum zumindest in Ansätzen die Möglichkeiten und die Weite der neuen Bühne vorzuführen. Die Bühne, von Annette Breuer in Szene gesetzt, öffnet sich im Laufe des Spiels, bis sie schließlich in Gänze und ziemlich nackt zu sehen ist. Mit den Bühnen wechseln die illuminierten Stimmungen: von kalt zu warm und wieder zurück. Zwischenzeitlich trennt eine leichte Wand die Fläche, es entsteht eine Vorder- und eine Hinterbühne. Die Hinterbühne durch ein großes Tor gut sicht-, aber nicht zwingend gut hörbar. Gerade die Zuschauer in den obersten Rängen hatten teilweise Mühe, dem Spiel auch nur akustisch zu folgen.

 

 Weniger ist  oft mehr

Manchmal, meistens, ist weniger mehr. Denn das Spiel blieb, nicht nur auf Grund der Tiefe der Bühne, seltsam entrückt, rührte die Zuschauer nicht im Innersten. Die Schauspieler gaben ihr Bestes, dennoch schien sie etwas zu trennen, um als Ensemble zu agieren. In den ersten Szenen gar war so etwas wie eine Verunsicherung zu spüren. Die Tschechowsche Komödie, die zugleich eine Tragödie und Farce ist, kam nicht richtig in die Gänge, magische Momente waren Mangelware. Der Kinderchor zu Beginn, die Plastikschweine auf der Bühne, ein kläffender Hund namens Anton: alles nette Ideen, die für Aktion auf der Bühne sorgen. Und doch fehlt das große, mit geschickten Händen gewebte Band, dass die einzelnen Elemente hätte zusammenfügen können.

Dabei ist Tschechows Werk zeitlos. Das letzte Stück des meisterhaften Beobachters von Untergang und Banalität des russischen Adels, 1904 verfasst, lässt sich gut auf die Gegenwart übertragen. Wertewandel, der immer auch Zerfall alter Werte bedeutet, ist eine Konstante der Moderne und der Postmoderne. Die allgemeine Beschleunigung des Lebens verhindert zwar, dass es eine tradierte und als Klasse gefügte Form wie den Adel als relevante gesellschaftliche Kraft gibt. Da bleiben für die Transformation zwei Möglichkeiten: Heute ist die ganze Gesellschaft der Tschechowsche Adel. Oder aber der Kosmos wird entschieden verkleinert und der Zerfall in die Beziehungsebene von Familie und Freunden verlegt.

Heicks Inszenierung macht diesen Sprung nicht mit, zumindest nicht explizit. Der Abschied vom Vertrauten bleibt im imaginierten Raum der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Themen, die sich mit der gegenwärtigen Zeit genössisch machen, werden trotzdem sichtbar, im Kopf verdichten sie sich hin zu einem Blick auf die eigene Gegenwart, die auch das »wir« einer Gesellschaft im Wandel umfasst. Die hoch verschuldete Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Carmen Priego) steht vor dem Abgrund, der Kirschgarten droht versteigert zu werden. Doch sie sieht den Abgrund nicht, weil er für sie unvorstellbar ist. Doch Ranjewskaja ist nicht Jesus. Sie kann nicht übers Wasser wandeln, sie fällt rein. Ranjewskaja, deren belangloses Leben zwischen Liebhabern und Geldverschwendung mit dem tragischen Verlust ihres Kindes einen emotionalen Fixpunkt kennt, der sich tief in ihren Kopf eingebrannt hat, zieht eine ganze Bande von Verschwendern, Säufern und Zweiflern hinter sich her. Einem Stern, dem es zu folgen eigentlich nicht lohnt, der aber bis zum Schluss hell leuchtet, weil er alles Irritierende einfach ignoriert.


Nur noch das Rasierwasser trennt

Die größte Irritation ist zweifelsohne Jermolaj Alexejewitsch Lopachin (Thomas Wolff), dessen Eltern auf dem Gut, im Kirschgarten, als Sklaven schufteten und der es, obwohl oder weil er nach billigem Rasierwasser riecht, mit genauer Kalkulation zu einer reichen Person geworden ist. Ein Mythos, ein Tellerwäscher der zum Millionär wird, den Tschechow aber braucht, um den Zerfall der alten Stände zu zeigen. Lopachin hat Geld, folglich wenig Zeit, weil er selbiges ständig vermehren muss – die ewige Wachstumsparabel, die bis in die Gegenwart Gültigkeit hat – er hat, und dies ist außergewöhnlich, auch noch ein Herz. Dieses ist verbunden mit der Familie Ranjewskaja, einerseits mitfühlend, fast devot, andererseits gebietend, in der erregten Freude, den alten Sklaventreibern zu zeigen, wo die Kirsche hängt.

Die beiden Figuren, von Wolff und Priego überzeugend dargestellt, sind der Motor der Geschichte. Ranjewskaja nun wechselt in der Inszenierung Kleider und Frisuren wie der Wind die Richtung, doch der verwirrende Schein ist immer wieder leicht auf das Sein zurückzuführen. Lopachin hingegen hadert mit sich, kauft aber dennoch den Kirschgarten und stellt damit die alten Verhältnisse auf den Kopf. Der Diener bleibt allein zurück, seine Dienste werden nicht mehr gebraucht. Mit ihm stirbt auch die alte Zeit. Ein gültiges Tableau, welches noch bis Weihnachten im Stadttheater zu bewundern ist.


Alle Termine: www.theater-bielefeld.de


Trauern um den Kirschgarten: Carmen Priego und Monika Wegener. Alle Fotos: Philipp Ottendörfer