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Anonyma, "Eine Frau in Berlin"



Titel: Anonyma"Auf die stereotype Frage "Wie oft haben die...? erklärt die Dame das Hauses in ostpreußisch breitem Tonfall: "Mich? Bloß einmal, am ersten Tag. Von da ab haben wir uns in Luftschutzkeller eingeriegelt, wir hatten unten einen Waschkessel voll Wasser." Es ist scheinbar Normalität unter Frauen in diesen Tagen, am Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin, nach der Anzahl der erlebten Vergewaltigungen und den mehr oder weniger erfolgreichen Strategien zur Abwehr zu fragen. Im Tonfall fast gleichmütig, ohne deutliche Aufregung, Anklage oder Hass beschreibt die Autorin, die auch posthum anonym bleiben möchte, ihr persönliches Wahrnehmen und Erleben der letzten Kriegstage in Berlin. Schonungslos und offen, gleichzeitig distanziert beschreibt sie die eigene Umgebung: Menschen, die aufgrund der Kriegszerstörung in Zwangsgemeinschaften zusammenrücken und sich notwendigerweise mehr oder weniger gegenseitig unterstützen. Zentral und allgemein ist das Erleben des Hungers und der mangelnden Hygiene, es geht ums Überleben.

Diese Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April 1945 bis zum 22. Juni 1945 sind zwar kein historisches, aber ein authentisches Dokument. Erstmals erschienen sie Ende der 50er Jahre in mehren europäischen Ländern. Die Zeitzeugin, die mit ihrem Bericht symbolisch auch anderen Frauen eine Stimme verleiht, bricht das immer noch aktuelle Tabu, Vergewaltigung öffentlich zu thematisieren. Die meisten Frauen mussten das Erlebte aus vielerlei Gründen verschweigen und verdrängen: aus Scham, um die Eh(r)e zu bewahren, weil andere sie aus Angst vorschickten: " Nun geh schon mit", das blieb nicht folgenlos. "Immer wieder bemerke ich in diesen Tagen, daß sich mein Gefühl, das Gefühl aller Frauen den Männern gegenüber ändert ...Eine Art von Kollektiv-Enttäuschung bereitet sich unter der Oberfläche bei den Frauen vor. Die männerbeherrschte, den starken Mann verherrlichende Naziwelt wankt - und mit ihr der Mythos "Mann"." Auch der eigene Freund bleibt nicht ausgenommen, von der Front zurückgekehrt findet er keinen angemessen Umgang mit der Situation, zeigt kein Verständnis für das Erlebte der Autorin. Nach der Lektüre der Tagebücher setzt er sich erst mal ab mit der Ausrede Nahrungsmittel organisieren zu wollen.

1947 erklärt die Autorin in einem Gespräch: "Keins der Opfer kann das Erlittene gleich einer Dornenkrone tragen. Ich wenigstens hatte das Gefühl, dass da etwas mit mir geschah, dass eine Rechnung ausglich." Fast bestürzend klingt diese reflektierte Haltung, die das eigene Erleben angesichts der Verbrechen Nazideutschlands relativiert, das war sicherlich nicht die typische Einstellung. Für die Autorin mag diese Sichtweise eine Möglichkeit der Bewältigung geboten haben, wie auch ihr Mut, das Erlebte auszusprechen und schriftlich niederzulegen.

Anonyma, Eine Frau in Berlin, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2003, 27,50 Euro

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