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Der Schein bestimmt das Sein (Ordnungspolitik, Kommentar; 23.07.2003)



´Festtrinken
Strafwürdig? Eingeborene beim öffentlichen Aufnehmen von Flüssigkeit





















Ein Kommentar von Manfred Horn


Ohne das böse Lied des Ludwig Hirsch anklingen lassen zu wollen, der einen Herrn Haslinger Tauben füttern lässt: Tauben mögen die Ratten der Lüfte sein – auch auf meinem Dachboden haben sie sich schon illegaler Weise versucht einzunisten – sie jedoch mit einem Fütterungsverbot zu bekämpfen, macht wenig Sinn. Aber letztlich sind die Tiere ja noch mal glimpfig davon gekommen: Das Tierfütterungsverbot wurde mit menschlicher Stimmen-Mehrheit aus der Verordnung wieder gestrichen.

In der Debatte wurde aber deutlich: Die Rechte der Tiere sind mehr Wert als die der Menschen. Denn diese Gattung wird mit der neuen Verordnung mächtig geknebelt. Schon vor Jahren drängten einige BfB-Mitglieder auf eine saubere Stadt und bildeten sich medienwirksam mit großen blauen Plastiksäcken beim Müllsammeln im Ravensberger Park ab. Motto: Der Müll muss weg. Müll und Dreck wird aber nur zu gerne in Zusammenhang gebracht mit allerlei streunendem Volk. Deswegen ist die Verordnung in großen Teilen auch ein nur schlecht maskierter Angriff auf Obdachlose, Bettler, Straßenkünstler und Jugendgangs. Ihre Daseinsberechtigung im öffentlichen Raum wird minimiert. Oder anders gesagt: Es wird ein ›Wechsel‹ vollzogen: Wollen diese Gruppen noch im öffentlichen Raum verbleiben, müssen sie zukünftig zahlen. Der Schein bestimmt das öffentliche Sein.

Der Traum der Saubermänner und -frauen: Eine ordentliche Stadt ohne herumwehende Plastikbecher, Zigarettenstümmel und Hundehaufen. Eine sterile City, am besten noch überwacht von zahllosen Kameras. Die Selektion hat bereits begonnen: Denn für die neue Verordnung gilt das Opportunitätsprinzip. Was im Klartext nichts anderes heißt, als dass ein biertrinkender Besucher eines Eingeborenen-Festes, landläufig auch Schützenfest genannt, der sich mit seinem Halb-Liter-Becher Teutonenbier etwas abseits des Platzes auf eine – der im Stadtbild immer seltener werdenden – Parkbänke setzt, um abwechselnd davon zu trinken und in die Büsche zu pinkeln, anders behandelt werden kann als der Punk, der das gleiche tut, ohne allerdings von einem Volksfest zu kommen. Der erste erhält wahrscheinlich kein Bußgeld, der zweite schon. Das Opportunitätsprinzip verstößt eklatant gegen das Gleichheitsprinzip: Es ist der Urteils- und damit auch Vorurteilsfähigkeit der Ordnungskräfte überlassen, Strafen auszusprechen.

Und was passiert, wenn sich vor einer Kirche Jugendliche treffen, um Musik zu hören und sich ein Gemeindemitglied während des Gottesdienstes bemüssigt sieht, in die Beichtkabine zu springen und mit seinem Handy die Nummer der Polizei zu wählen? Werden die Jugendlichen dann bestraft? Und gilt gleiches auch für Moscheen? Und was wird aus katholischen Kirchen, die zu Moscheen werden – wie Michael Vesper begleitet von einem Entrüstungssturm angeregt hat? Fallen die dann noch unter die Verordnung? Fragen über Fragen. Leben lässt sich nicht in Verordnungen pressen.

Damit bietet diese neue Verordnung – im Gegensatz zur Anzahl in der Stadt – gleich zwei Eisflächen: Erstens die Unsinnigkeit der Verordnung überhaupt. Statt Dialog und Einigung: Repression. Das wird nicht funktionieren. Und zweitens die Abschaffung des Legalititätsprinzips. Recht wird wieder selektiv. Früher hieß so etwas Klassenjustiz. Bleibt nur zu hoffen, das Verwaltung und Ratsmehrheit mit dieser Verordnung kräftig ausrutschen.