Webwecker Bielefeld: stundenull

Keine Stunde Null (11.05.2005)





Teile Bielefelds lagen in Schutt und Asche. Es dauerte bis 1948, bis die Schuttberge an den Straßenrändern überhaupt abgetragen wurden. Das Foto ist in der Ausstellung »In jenen Tagen...« im Stadtarchiv zu sehen


Von Manfred Horn

Eine Stunde Null hat es in Bielefeld nicht gegeben. In der historischen Rückbetrachtung steht die Kontinuität im Vordergrund. Eine Kontinutität, die allerdings unter veränderten Vorzeichen stattfand. So waren nach April 1945 kaum noch Nationalsozialisten in der Stadt zu finden. Plötzlich wollte niemand mehr dabei gewesen sein, fast jeder konnte sich an eine gute Tat erinnern, die dann schnell als Widerstand gegen die NS-Diktatur ausgelegt wurde.

Die Jahre nach dem Krieg war die Zeit der Persilscheine. Ein System des gegenseitigen Zertifizierens von Unschuld entstand, das nur ein Ziel hatte: Sich oder eine andere Person reinzuwaschen. Bernd Hey, Leiter des Landeskirchlichen Archivs in Bielefeld, nennt ein Beispiel, das repräsentativ für hunderte andere in der Stadt stehen dürfte: Karl Koch, Präses des evangelischen Kirche von Westfalen mit Sitz in Bielefeld und während des Nationalsozialismus Mitglied der Bekennenden Kirche, stellte ausgerechnet Alfred Hugenberg, der mit seiner Deutsch-Nationalen-Volkspartei (DNVP) Hitler den Aufstieg zur Macht mit ermöglichte, einen Persilschein aus. Hugenberg sammelte fleißig Stimmen im nationalkonservativen Lager, er erklärte 1932: »Das parlamentarische System hat versagt«. Hey hat den Persilschein im Kirchenarchiv gelesen: »Da schlackert man mit den Ohren. Haben die denn gar nichts gelernt?«.

Wolf Kätzner, bis 2000 Leiter des Hauptarchivs Bethel, schildert einen ähnlichen Fall: Der Vorsteher der Diakone der von Bodelschwinghschen Anstalten, Paul Tegtmeyer, stellte nach Kriegsende »dutzendfach« Persilscheine für ehemalige »Volksgenossen« aus.

Nationalsozialismus war also out, die Jugend organisierte sich lieber in Sportvereinen denn in politischen Verbänden. Bereits Mitte 1946 waren wieder ein Viertel der Bielefelder Jugendlichen in 40 Sportvereinen aktiv, aber nur 13 Prozent in parteipolitischen oder kirchlichen Jugendverbänden. »Die Zahlen der kirchlichen und parteipolitischen Vereinsjugend sanken weiter, als nach der Währungsreform von 1948 Jugendveranstaltungen nicht mehr die einzige Möglichkeit boten, endlich einmal satt zu werden«, fand Monika Minninger, stellvertretende Leiterin des Stadtarchivs, heraus. Die Bevölkerung zeigte sich an der Oberfläche angesichts ihrer Geschichte lieber unpolitisch – eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte fand so garantiert nicht statt.

Als Bielefelder Bürger am 4. April 1945 auf dem Jahnplatz und heranrollenden US-Amerikanern auf deren Frage: »Wo sind die Nazis«, zuriefen, im Bunker in der Holländischen Straße, geschah dies wohl weniger aus Hass gegen die Nationalsozialisten. Vielmehr war es ungeheuer komfortabel zu sagen: »Die waren es, ich aber nicht. Ich bin sogar bereit, die Nazi-Bonzen zu verraten«. Der Anfang einer langen Zeit des Verdrängens und Verschweigens.

Die Briten hatten sich allerdings nach 1945 sehr wohl vorgenommen, die Deutschen zu entnazifizieren. Im Rückblick wird jedoch deutlich: Ein Versuch, der weitestgehend scheiterte. Zwar entließen sie rund 100 Bedienstete der Stadt, die meisten wurden nach wenigen Jahren aber wieder eingestellt.

Eine Besonderheit stellten die sogenannten Spruchkammern dar, in denen Nazis abgeurteilt werden sollten. Auch Bielefeld hatte eine. Sie nahm 1947 als eine von sechs solchen Einrichtungen in der britischen Zone ihre Arbeit auf. Von 1949 bis 1956 wickelte sie als letztes Spruchkammer der Zone auch noch die offen gebliebenen Verfahren der anderen Kammern mit ab.