Webwecker Bielefeld: resignation01

Die größte Gefahr ist die Resignation (26.04.2006)



Angelika Claußen ist Bundesvorsitzende des IPPNW-Deutschland. Die Organisation mit dem etwas ungelenken Namen »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung« tritt seit Jahrzehnten gegen Atompolitik ein. Angelika Claußen ist zugleich Ärztin in Bielefeld. Sie eröffnete den Tschernobyl-Kongress, der vom 7. bis 9. Mai in Bonn stattfand. Der WebWecker dokumentiert leicht gekürzt ihre Rede, in der sie auf Vertuschungen und Kontinuitäten der Atomindustrie eingeht.



Samstag, 26.April 1986, 1 Uhr, 23 Minuten, 40 Sekunden. Im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodieren 180.000 Kilogramm hochradioaktives Material aus dem Inneren des Reaktors. Das entspricht der Menge von 1.000 Hiroshima-Bomben. Mindestens 200 verschiedene radioaktive Stoffe werden in die Atmosphäre katapultiert.

In den ersten Tagen spielten die Piloten in den Militärhubschraubern eine entscheidende Rolle im Kampf gegen das atomare Ungeheuer. Sie warfen Blei und Sand sowie dekontaminierende Flüssigkeiten ab. Sie schafften die Baumaterialien für den Sarkophag heran. 300 Meter über dem Reaktor erreichte die Radioaktivität 1800 Röntgen oder Rem /Stunde. Die Piloten bekamen mitten im Flug Schwindelanfälle.Um ihre Sandsäcke in den brennenden Schlund des Kraftwerks zu werfen, strecktensie den Kopf aus der Kabine und arbeiteten auf Sicht.

Als die ferngesteuerten Maschinenroboter, die u. a. das Dach von den Graphitblöcken reinigen sollten, »streikten«, also wegen der hohen Radioaktivität nicht funktionierten, wurde eine riesige Armee menschlicher Roboter eingesetzt, die Liquidatoren. Da waren zum Beispiel die sogenannten »Dachkatzen«, das sind die Liquidatoren, die in 40 Sekunden mit einer Schaufel bewaffnet radioaktiven Schutt in das Loch von Block 4 des Reaktors werfen mussten. Es war ein total aussichtsloser Kampf gegen die Radioaktivität.

Viele Liquidatoren, schätzungsweise zwischen 50.000 – 100.000, sind gestorben, und 90 Prozent von ihnen sind schwer erkrankt. In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet das: 540.000 – 900.000 junge Männer sind infolge von Tschernobyl schwer erkrankt. Sie haben ihr Leben, ihre Gesundheit geopfert. Sehr wahrscheinlich wäre das Ausmaß der radioaktiven Kontamination ohne ihre Arbeit auch in Europa viel größer gewesen.


Die Folgen werden vertuscht

Jetzt 20 Jahre später, erleben wir eine zweite Katastrophe: Die Folgen der zweiten großen atomaren Katastrophe des 20 Jahrhunderts werden vertuscht und verleugnet. Wie die Hibaksha, die Opfer von Hiroshima, so werden auch die Opfer von Tschernobyl alleine gelassen und aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gestrichen. »Kein Grund zur Beunruhigung«, so lautete die zentrale Botschaft des Tschernobylforums, das unter der Federführung der IAEO, der internationalen Atomenergiebehörde, im September 2005 in Wien tagte.

Doch die Sprache, die von den Pressesprechern und Wissenschaftlern des Tschernobylforums und der IAEO benutzt wird, ist verräterisch: Nur 4.000, jedoch gut behandelbare Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen seien aufgetreten. Und das bei insgesamt 18 Millionen Menschen, die radioaktiven Strahlen exponiert waren.

Zu den Liquidatoren heißt es in der Presseerklärung der IAEO vom August 2005: »Die Studien, die zu Krebs- und Todesraten unter den Liquidatoren durchgeführt wurden, zeigten keine direkte Korrelation zwischen einer Strahlenexposition und erhöhten Krebs- oder Todesraten. Eher kann eine Korrelation zwischen den psychologischen Problemen und deren Status als Liquidatoren gezogen werden, obwohl der Kollaps der Sowjetunion und die ökonomischen Probleme in Russland, Ukraine und Belarus auch Faktoren für psychologischen Stress sein können«.