Webwecker Bielefeld: »Zerschlagung der solidarischen Krankenversicherung« (09.08.2006)

»Zerschlagung der solidarischen Krankenversicherung« (09.08.2006)



Die nächste Gesundheitsreform steht an. Die Große Koalition sieht darin ein großes Werk, nicht so die Opposition. Britta Haßelmann, grüne Bundestagsabgeordnete aus Bielefeld, kritisiert, dass sich »SPD und CDU wechselseitig von ihren eigenen Verhandlungsergebnissen» distanzieren. Die Reform bedeute erhöhte Beiträge für die Versicherten, hingegen würde die Pharmalobby geschont. Strukturreformen würden nicht angestoßen.

Inge Höger, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei aus Herford, sieht in der Gesundheitsreform, deren Eckpunkte gerade von der Großen Koalition festgelegt wurden, einen »weiteren Schritt zur Zerschlagung der solidarischen Krankenversicherung«. Im WebWecker-Interview erläutert die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linkspartei ihre Kritik an der Reform.




WebWecker: Die Halbwertszeit so genannter Jahrhundertreformen nimmt ständig ab, zur Zeit diskutieren wir schon wieder Eckpunkte einer neuen Gesundheitsreform.

Inge Höger: Das so genannte Gesundheitsmodernisierungsgesetz, kurz GMG, der rot-grünen Koalition trat bereits 2004 in Kraft. Es wurde tatsächlich als Jahrhundertreform angekündigt und sollte die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung senken und die Arbeitslosigkeit abbauen. Das Gesetz hat keine zwei Jahre gehalten. Keine seiner Verheißungen ist eingetreten. Im Gegenteil droht den gesetzlichen Krankenkassen 2007 ein Defizit von 15 Milliarden Euro.


An dieser Stelle wird auf die häufig zitierte ›Kostenexplosion‹
verwiesen…


Ursache ist keine Kostenexplosion, etwa aufgrund massenhaften Leistungsmissbrauchs, sondern die Aushöhlung der Einnahmebasis: der Rückgang der Löhne, wachsende Arbeitslosigkeit und Ausweitung prekärer Beschäftigung wie Mini-, Midi und Ein-Euro-Jobs führen zu Einnahmerückgängen des Sozialversicherungswesens.


So oder so – für die Große Koalition ergibt sich erneuter Reformbedarf.

Im Koalitionsvertrag wurde eine Finanzreform angekündigt, über der verschiedene Arbeitsgruppen gebrütet haben. Herausgekommen sind Eckpunkte für eine Gesundheitsreform 2006, die für die Versicherten und für die Beschäftigten im Gesundheitswesen nichts Gutes bedeuten. An der Unterfinanzierung ändern sie nichts, und den Leistungserbringern verlangen sie keine Zugeständnisse ab.


Was sind für Sie die Knackpunkte?

Zum einen sollen per Gesetz die Beitragssätze um 0,5 Prozent für alle Kassen heraufgesetzt werden. Hier wird mit einem Handstreich die Selbstverwaltung der Krankenkassen ausgehebelt. Die war bisher immer aufgefordert, unter dem Stichwort der Senkung der Lohnkosten die Beitragssätze zum Segen der Arbeitgeber zu reduzieren. Die Anhebung um einen halben Prozentpunkt reicht gerade aus, um das Loch zu schließen, das die große Koalition soeben gerissen hat, indem sie den Steuerzuschuss aus der extra für diesen Zweck erhöhten Tabaksteuer und der Erhöhung der Mehrwertsteuer strich. Damit bezahlen die gesetzlich Versicherten faktisch einen Teil der Sanierung des Bundeshaushaltes. Die Finanzierung der Gesundheitsausgaben wird nicht gesichert–- weder auf dem gegenwärtigen Niveau, noch für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung.


Was halten Sie von der Einrichtung eines Gesundheitsfonds?

Die Einrichtung eines Gesundheitsfonds gefährdet in hohem Maße das umlagefinanzierte und weitgehend solidarisch funktionierende System der gesetzlichen Krankenkassen. Dieser Gesundheitsfonds wird nicht nur ein überflüssiges bürokratisches Monster. Er ist auch ein Instrument, um die paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen endgültig abzuschaffen.

Diese Parität bröckelt doch schon länger…

Die Parität wurde bereits unter der Kohl-Regierung durchbrochen, indem Minister Seehofer umfangreiche Zuzahlungen der Versicherten einführte. Unter Rot-Grün hat Ulla Schmidt mit dem GMG nicht nur die Praxisgebühr eingeführt, sondern die Zuzahlungen auf Schwindel erregende acht Milliarden Euro jährlich erhöht. Für Krankengeld und Zahnersatz führte das GMG einen Sonderbeitrag von 0,9 Prozent ein, der allein von den Versicherten bezahlt wird. Insgesamt belaufen sich die aus der Parität herausgenommen Mittel auf jährlich 22 Milliarden Euro.


Was passiert mit den übrig gebliebenen Kernbereichen?

In Zukunft sollen beide Seiten einen gleichen Beitragssatz in den neuen Fond einzahlen, aus dem die Krankenkassen dann Kopfpauschalen bekommen. Wenn die Kassen mit diesem Betrag nicht auskommen oder im Wettbewerb um die niedrigsten Kosten nicht mithalten können, sollen allein die Versicherten Zuschläge leisten. Zur Zeit ziehen die Krankenkassen die Beiträge für die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung zusammen ein und verteilen sie. Es ist unklar, ob nun weitere Einzugsbehörden geschaffen werden sollen.


Aber was soll dies Fondmodell denn eigentlich bringen?

Es wird behauptet, die Kassen würden so einem wirtschaftlicheren Umgang mit ihren Mitteln gezwungen. Denn ihre Kunden, die Versicherten, würden sich zur Konkurrenz verabschieden, wenn sie statt einen Bonus zu erhalten, einen Zuschlag zu zahlen hätten.

Die Geschichte des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen zeigt aber, dass die Krankenkassen vor allem um junge, gesunde und gut verdienende Mitglieder konkurrieren. Denn diese zahlen die Beiträge, verursachen aber nur geringe Ausgaben. Kassen mit vielen alten und kranken Versicherten konnten bereits in der Vergangenheit nur mithalten, wenn sie bei den Leistungen kürzten oder kostenträchtigen Versicherten nahe legten, zu einer anderen Kasse zu wechseln. Dies wird noch zunehmen, wenn der Wettbewerb nicht um die beste Versorgung, sondern um den günstigsten Beitragssatz beziehungsweise keinen Zuschlag gehen wird. Darüber hinaus werden dem Gesundheitssystem so weitere Mittel entzogen werden, die eigentlich für eine zukunftsfähige Versorgung nötig wären.


Begrüßen Sie die Teilfinanzierung aus Steuermitteln?

Die geplante Umstellung auf eine stärkere Steuerfinanzierung ist mehr als fragwürdig. Mit dieser Ankündigung will die Bundesregierung über die zu erwartende Finanzierungslücke der Krankenversicherung hinwegtäuschen. Gerade hat sie den Steuerzuschuss für versicherungsfremde Leistungen gestrichen und den Versicherten dadurch höhere Belastungen aufgebürdet. Gleichzeitig kündigt sie an, in Zukunft die Krankenversicherung der Kinder aus Steuermitteln finanzieren zu wollen. Klar ist, dass dies 16 Milliarden Euro im Jahr kosten wird. Für die Jahre 2008 und 2009 sollen aber nur 1,5 beziehungsweise 3 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Wer soll die Differenz zahlen?


Wäre es vom Grundsatz nicht sinnvoll, die Gesundheitsversorgung
verstärkt oder ausschließlich aus Steuermitteln zu betreiben?


So sinnvoll es erscheint, gesellschaftliche Aufgaben aus Steuern zu finanzieren, so ist auch dies nur eine weitere Maßnahme, mit der die Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung entlassen werden sollen. Die Arbeitgeber werden entlastet, während den gesetzlich Versicherten eine Verlagerung der Beitragslast über Steuern – wahrscheinlich wieder über eine unsoziale Mehrwertsteuererhöhung – droht.

Kommt es zu einer Zerschlagung der solidarischen Krankenversicherung?

Nicht wenn es nach uns geht. Aber ganz nebenbei wird den Krankenkassen auch noch der Status einer Körperschaft öffentlichen Rechtes entzogen. Sie sollen in Zukunft dem Handelsgesetzbuch unterliegen und insolvenzfähig werden. Damit wird ihre Überführung in private Versicherungen vollzogen.


Das ist vermutlich nicht der Wettbewerb, den Sie sich vorstellen?

Ganz sicher nicht. Bei der ganzen Diskussion über die Einführung von Wettbewerb zwischen privaten und gesetzlichen Versicherungen stellte sich bereits die Frage, wie Wettbewerb zwischen Profitorientierung und Versorgungsauftrag, zwischen Risikobeitrag und Umlagefinanzierung funktionieren kann. Nun wird die Privatisierung eines seit über 100 Jahren gut funktionierenden paritätisch und solidarisch finanzierten Systems der gesetzlichen Pflichtversicherung eingeläutet. Das gilt es zu verhindern.