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Täter zu Opfern? (Teil 2)



Diese Diagnose stützt Welzer durch Literatur ab, beispielsweise auch in dem Buch ›Krebsgang‹ von Günter Grass. Das Ursprungsereignis der Nachkriegsgesellschaft liegt heute im Leiden, nicht mehr im Tun. Ein Paradigmenwechsel, wurden die Anfänge nach 1945 doch jahrzehntelang mit Steine wegräumenden Frauen bebildert. Heute werden die Anfänge zurückdatiert in die Bombennächte in deutschen Städten im 2. Weltkrieg.

Auch der Roman ›Der Vorleser‹ von Bernhard Schlink stricke kräftig an dem Paradigmenwechsel mit: Hier werde das Motiv des eigentlich schuldlosen Schuldigen in den Vordergrund gestellt, erklärt Welzer. Die Protagonistin des Romans ist eine ehemalige KZ-Wächterin, die aber nicht lesen und schreiben kann und von daher eigentlich gar nicht so recht wusste, was sie damals tat. Nun kommt es aber, so will es der Roman, Jahrzehnte später doch noch zum Prozess. Die ehemalige KZ-Wärterin nimmt dabei mehr Schuld auf sich als eigentlich nötig, sie kann ja schließlich nicht lesen und schreiben und versteht den Prozess nicht. Im Gefängnis lernt sie dann lesen und schreiben, befasst sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Schließlich begeht sie Selbstmord, nicht ohne vorher ihr Geld der ›Jüdischen Liga gegen Analphabetismus‹ zu vermachen. Welzer interpretiert, dass die das Geld der Liga vermacht, damit diese durch Alphabetisierung dafür sorge, dass niemals mehr Verbrechen gegen Juden geschehen, die Verantwortung dafür also den Juden selbst gegeben wird.

Welzers Interpretation ist an dieser Stelle aber durchaus zu hinterfragen: Denn diese jüdische Liga zielt mit ihren Alphabetisierungsbemühungen vermutlich zuvorderst auf die jüdische Bevölkerung und nicht global auf die Weltbevölkerung. Deswegen steckt hier wohl eher zwei andere Momente in der Handlung: Zum einen mehr oder weniger versteckter Antisemitismus, der den Juden Schuld an ihrer eigenen Vernichtung gibt, analog zu dem Mythos, sie hätten damals an einer kapitalen Weltverschwörung gestrickt; und zum zweiten ein Moment konservativen Humanismus. Also die punktuelle Unterstützung bei Ausblendung jeglicher Zusammenhänge. Das ist ungefähr so, wenn Politiker das Sozialsystem abschaffen und gleichzeitig die Übergabe eines 1000 Euro-Schecks an einen Obdachlosen inszenieren.

Für Welzer ist der Roman ein Beispiel für den Dreischritt: Schuldeingeständnis, musterhafte Aufarbeitung und Widergutmachung. Deutlich, dass derartige Literatur gesellschaftlich anschlussfähig ist, Analogien zum sozialen Sein der bundesrepublikanischen Gesellschaft bildet.

Ein weitere literarisches Motiv hat Welzer in jüngster Zeit ausgemacht: Das der Unschärfe. Da werden Täter auf einmal zu Opfern und Täter des Guten. Ein Spiegel der empirischen Umfrageergebnisse. Beispiel: der Roman ›Unscharfe Bilder‹ von Ulla Hahn: Der Protagonist taucht auf dem Foto einer Ausstellung als Kriegsverbrecher auf, weil er auf dem Foto als Wehrmachtsangehöriger einen Gefangenen erschießt. Doch die Geschichte bekommt schnell eine Wendung: Er musste das damals tun, weil ihn ein SS-Mann dazu gezwungen hatte. Und es kommt noch dicker. Er trifft das Opfer noch nicht einmal, er fällt danach in Ohnmacht, wacht wieder auf, besinnt sich, erschießt den SS-Mann, flieht mit der Partisanin in die Wälder, verliebt sich. Das scheint der Stoff, aus dem viele deutsche »Erinnerungsträume« sind.