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Täter zu Opfern? (28.01.2004)




Diagnostizierte zunehmende Unschärfe den Nationalsozialimus betreffend: Harald Welzer bei seinem Vortrag vor 90 ZuhörerInnen in Bielefeld



Von Manfred Horn

Neben der Verleihung des Geschichtspreises an Schulklassen aus Gütersloh und Porta-Westfalica lud der ›Verein zur Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Wehrmacht‹ am Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar, Harald Welzer nach Bielefeld. Welzer leitet die Forschungsgruppe ›Interdisziplinäre Gedächtnisforschung‹ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und brachte eine spannende Fragestellung mit: »Von der Täter- zur Opfergesellschaft? Zum Umbau der Erinnerungskultur«.

Welzer, Psychologe und Historiker zugleich, fragte zunächst, ob in dem ganzen Reden über den Holocaust und die Verbrechen der Deutschen im 2. Weltkrieg nicht ein »ganz komplizierter und perfider Mechanismus des Vergessenmachens« stecke. Wer viel rede, müsse eben nicht unbedingt auch etwas sagen. Zwar gebe es bereits seit den 1950er Jahren das offizielle Diktum, dass Auschwitz sich noch nicht einmal wiederholen dürfe. Auch habe es massenmediale Ereignisse gegeben, wie die Ausstrahlung des Holocaust-Films im deutschen Fernsehen 1979.

Doch, sagt Welzer, es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der offiziellen Erinnerungskultur, dem kulturellen Gedächtnis und der privaten Erinnerung. In der privaten Erinnerung stünden das Leid der deutschen Bevölkerung, der Bombenkrieg beispielsweise, im Vordergrund. Und dabei ist Erinnerung nicht eng als persönliche Erinnerung zu verstehen. Erinnerung wird weitergegeben und interpretiert. Das dabei allerlei Erinnerungskonstruktion geschieht, zeigen die Ergebnisse einer Familienstudie und einer repräsentativen Umfrage, die die Forschungsgruppe in Auftrag gab. Erinnerung ist demnach darauf zentriert, was die Familienmitglieder selbst erlebt haben. Das Thema Deportationen kommt in den Familiengesprächen so gut wie nicht vor.

Flankiert wird dies von einer Umdeutung der Geschichte durch die spätergeborenen Angehörigen. Laut der repräsentativen Untersuchung haben 26 Prozent der damaligen Bevölkerung Verfolgten geholfen, waren 13 Prozent im Widerstand und haben 17 Prozent den Mund aufgemacht, haben Zivilcourage gezeigt. In der Summe dichtet sich so ein Volk von Opfern und Tätern zusammen. Täter allerdings in einem anderen Sinn als bei der Geschichte des Nationalsozialismus zu vermuten wäre: Täter des Guten. Zu dem Bild einer Gemeinschaft von Freiheitskämpfern passt dann auch, dass laut Umfrage nur ein Prozent der Familienangehörigen an Verbrechen beteiligt gewesen sein wollen, vorgeblich nur drei Prozent antijüdisch waren und nur sechs Prozent der damaligen Bevölkerung den Nationalsozialismus als sehr positiv bis positiv ansahen.

In den Befragungen kam auch heraus: Je höher der Bildungsstand, desto mehr Widerstandskämpfer gab es angeblich in den eigenen Familien. Da werden eigene Omas und Opas kräftig politisch und moralisch umplatziert, die Geschichte in einer sehr privaten und konformen Version angeeignet.

Auch bei aller Fragwürdigkeit repräsentativer Umfragen: Ein katastrophaler Befund, der viele Fragen aufwirft: Ist die Aufarbeitung der NS-Geschichte misslungen? Und wenn ja, warum? Welzer beantwortete diese Frage nicht direkt. Er ging in seinem Vortrag den Weg über die Medien. Dort sei die NS-Thematik nach wie vor sehr populär. Fernsehfeatures erreichen hohe Einschaltquoten, entsprechende Literatur verkaufe sich sehr gut. Die Art und Weise, wie der Nationalsozialismus medial angepackt werde, komme dabei der »gefühlten Geschichte« näher als die Vernichtung der Juden und anderer Opfergruppen, stellt Welzer fest. Im Klartext: Ein Film über den Bombenkrieg oder einen helfenden Deutschen erreicht höhere Einschaltquoten als ein Film, der NS-Verbrechen thematisiert.