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Brief von Sajenko, Praskowja Fedosejewna (Teil 2)



Freizeit hatten wir im Grunde nicht, denn wir arbeiteten hart, 12 Stunden am Tag. Man ließ keinen auf das Territorium des Lagers rein. Insgesamt waren wir 25 Personen. Wir arbeiteten die ganze Woche, sonntags hatten wir frei. Da durften wir für 2 Stunden ausgehen. Und wenn man sich um eine Minute verspätete, dann bekam man keinen Ausgang mehr. Man gab uns 2 Mark, wir konnten aber nichts kaufen, weil die Bevölkerung Angst hatte, uns irgend etwas zu verkaufen. Nachdem ich von der Polizei verhaftet wurde, bekam ich gar kein Geld.

Manchmal gingen wir zu den Bauern und baten um ein bißchen Gemüse. Nur wenige gaben uns dann irgend etwas. Die meisten Menschen hatten Angst, mit uns zu sprechen.

An einigen Sonntagen lud mich die Frau eines Zahnarztes zur Arbeit ein. Ich wischte im Keller die Einmachgläser ab. Dafür gab sie mir ein bis zwei kleine Butterbrote.

Es ist erstaunlich, ich habe diese Ereignisse lebhaft vor Augen. Ich erinnere mich an die Gesichter der Menschen, an die Landschaft. In Erinnerung ist eine sehr schöne Stadt und der Wald.

Vor den Bombenangriffen gingen wir in den Keller, einmal fiel auf uns ein Balken. Danach erlaubte uns unser Besitzer, für die Zeit der Angriffe, in den Wald zulaufen. Drei Monate vor unserer Befreiung wurde die Fabrik zerstört, dann verkaufte man uns an einen anderen Besitzer. Es war ebenfalls eine Fabrik, an den Namen der Stadt und des Fabrikbesitzers kann ich mich nicht erinnern.

Am 1. April 1945 befreiten uns die amerikanischen Truppen. Dann gab es ein Treffen an der Elbe. Und dann die Rückkehr nach Hause.

Ich muß noch von einem Zwischenfall erzählen. Als deutsche Truppen unser Dorf Kapulowka besetzten, quartierten sich bei meiner Mutter deutsche Soldaten ein. Einer von ihnen war Einwohner der Stadt Bielefeld. Nachdem er erfuhr, daß die Tochter der Hausherrin in seine Stadt vertrieben wurde, war er einverstanden, die Briefe während des Urlaubs zu Hause zu übergeben. Sie können sich meine Angst vorstellen, als ich zum Besitzer gerufen wurde, aber auch wie ich und die anderen sieben Mädchen aus unserem Dorf uns über diese Nachricht von zu Hause freuten.

Nach der Rückkehr ins eigene Land arbeitete und heiratete ich, gebar drei Kinder, drei Söhne.

Am 5.April 2001 werde ich 77 Jahre alt. Die Gesundheit ist angeschlagen, ich sehe schlecht (Cataracta /grauer Star). Deshalb ist eine Augenoperation notwendig. Es ist bedauerlich, aber ich warte auf die vom heutigen deutschen Staat versprochene Entschädigung, um mein Problem zu lösen.

Ich lebe allein, mein Mann ist vor 5 Jahren gestorben. Ich bekomme eine geringe Rente. Nach der Abrechnung für die Kommunaldienste (Heizung, Strom, Wasser u.a.) bleibt davon nicht viel übrig.

Heute möchte ich allen Völkern wünschen, daß sie den Schrecken des Krieges niemals kennenlernen. Mit dem Krieg sind bei Euren und unseren Menschen viele traurige Erinnerungen verbunden. Es starben Kinder, Eltern, Verwandte, Freunde. Am 25. April 1945 starb mein Vater. Er ist neben dem Brandenburger Tor begraben. Diese Liste kann fortgesetzt werden... Der Schrecken darf sich niemals wiederholen.
Viel Glück allen.


Mit Hochachtung, Sajenko.
November 2001