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Viola Roggenkamp, »Familienleben«



Titel: »Familienleben«

Viola Roggenkamp, 1948 in einer deutsch-jüdischen Familie in Hamburg geboren, ist der einen oder dem anderen vielleicht als Publizistin bekannt. Ihre letzte Buchveröffentlichung war „Tu mir eine Liebe. Meine Mamme. Jüdische Frauen und Männer in Deutschland sprechen über ihre Mutter“. Mit ihrer neusten Veröffentlichung „Familienbande“ legt sie ihren ersten Roman vor, gleichzeitig Zeitporträt und Entwicklungsroman.

1967 in Hamburg, der Schah und seine Frau Farah Diba besuchen den westlichen Teil Deutschlands, keine Illustrierte, die dieses Ereignis nicht bis ins kleinste Teil ausschmückt. Studenten und Studentinnen rebellieren gegen die Universitäten, den faschistischen Staat, die autoritären Eltern. Titelbilder zeigen neben der Kaiserin von Persien auch Rudi Dutschke, Bilder von Demonstrationen. Und dann findet noch der Sechs-Tage Krieg statt, Israel besiegt durch einen Überraschungsangriff die arabischen Staaten, besetzt weiteres arabisches Terrain. Diese Ereignissen finden mittels der Blättchen des Lesezirkels Eingang in die kleine, vor der gefährlichen Außenwelt behüteten Familie: in einer Wohnung mit zwei Gärten in einer heruntergekommenen Villa in bester Wohnlage leben eine alte Frau und ihre Tochter, deren Ehemann und die zwei Töchter, die 17 jährige Vera, sie probt die Trennung vom Elternhaus und die vorpubertäre Fania, die Beobachterin. Alle Frauen sind JüdInnen, die Oma und ihre lebenslustige, energiegeladene Tochter überlebten den deutschen Faschismus nur durch die Unterstützung des deutschen Ehemannes, der zu keiner Zeit infrage stellt, dass er sich mit seiner Entscheidung richtig verhalten hatte. Die Familienbande sind mehr als stark und durch Liebe und Sorge fest geknüpft. Der Vater verlässt jeden Montag bis Freitag diesen sicheren Ort. „Unser Haus hockt zwischen Bäumen und Büschen. Hier ist Ruhe. Kein anderes Haus in dieser Straße ist so umstellt.“ Als nicht gerade erfolgreicher Handelsvertreter für Brillen sichert er den Unterhalt der Familie. Die Familie kommt klar, aber mal gerade so. In dieser Situation eröffnet der Vermieter Hainichen, das Haus, das vormals in jüdischem Besitz war, verkaufen zu wollen, die Mieter hätten das Vorkaufsrecht. Doch wie kann das Geld aufgetrieben werden, der Preis niedrig gehalten werden und was waren eigentlich die Konditionen, zu denen Hainichens Eltern das Haus arisierten?

In diesem Roman wird ein Stück deutscher Geschichte bearbeitet, aber mehr als das. Fanias Blick ist umfassender und präziser als aller anderen. Ihr entgeht nichts und sie zieht ihre eigene Schlüsse, die einer Dreizehnjährigen, die fast erwachsen und doch noch kindlich naiv ist. Mit virtuoser Sprache erzählt Viola Roggenkamp, wie in einer unberechenbaren Umwelt, wechselseitige Sicherheiten entwickelt werden müssen, damit das alltägliche Leben funktioniert. Daraus resultieren Nähe, Trennungen und moralische Haltungen, die trotz ihrer ungewollten, oft problematischen Konsequenzen gelebt werden. Der Preis ist mitunter hoch, doch das ist es wert. Viola Roggenkamp schreibt nicht belehrend, doch zwingend, gleichzeitig spielerisch. sie zieht eine/n unwiderstehlich in die Geschichte hinein.


Viola Roggenkamp, Familienleben, Arche Verlag, 436S, ca.23 Euro, 2004


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