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Bialystok in Bielefeld (Teil 2)





Bialystok in den 1920er Jahren


Die Strategie der Angeklagten und ihrer Anwälte im Bielefelder Prozess war gewöhnlich: Neutralisierung der Zeugen durch Verwicklung in Widersprüche, ansonsten: Nichts gewußt, nicht nachgedacht, an entscheidenden Stellen mit Erinnerungslücken behaftet oder sogar intern protestiert. Den Angeklagten teilweise vorgeworfene selbst ausgeübte Morde stritten diese kategorisch ab. Da dem Gericht die Beweise dafür fehlten, konzentrierte es sich auf den Anklagepunkt Beihilfe. Doch auch hier waren die Angeklagten wenig geständig: So führte der Beklagte Wilhelm Altenloh aus, der Obersturmbandführer Günther habe ihm die Befehlsgewalt entzogen, er hingegen hätte gewollt, dass das Ghetto erhalten bleibt. Schließlich seien die Juden wertvolle Arbeitskräfte gewesen. Diese und weitere Aussagen der Angeklagten sind auf insgesamt 40 Kilogramm Tonbändern erhalten. Eine Besonderheit, wurden derartige Aufzeichnungen normalerweise nach Ende eines Prozeßes vernichtet. Aus ungeklärten Umständen wurden die Bänder dieses Prozeßes aber aufbewahrt und bieten heute eine besondere Quelle für die Geschichtswissenschaft. Nur aus dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß sind ansonsten noch Audio-Aufzeichnungen von NS-Prozessen in der Bundesrepublik erhalten.

Der Bialystok-Prozess war insofern auch besonders, als dass das Gericht, nachdem es merkte, dass die Aktenlage wenig beweiskräftig war, selbst Recherchen anstellte. So wurde erst in diesem Prozeß an Hand von Listen belegt, dass die Deportierten aus den Ghettos im Bezirk Bialystok auch tatsächlich in den Vernichtungslagern ankamen. Im Zuge des Prozesses und auf Anweisung des Gerichts wurden auch geheime Aufzeichnungen von Ghettobewohnern aus dem polnischen in die deutsche Sprache übersetzt.

Rückblickend konstatieren Historiker der Rechtssprechung in den Nachkriegsjahren Versagen, sie sprechen von »schwersten Unterlassungsschäden«, wie Anders ausführt. Eine »Gehilfenjudikatur« zeichnete sich ab: Wenn überhaupt Täter, dann haben die meisten nur geholfen, auf Befehl ausgeführt. Wirklich verantwortlich wollte keiner sein. Und auch die Gerichte folgten oft dieser Argumentation angeklagter NS-Täter. Aus der Retrospektive wird aber auch deutlich: Es gab damals viel mehr Entscheidungsträger. Auch solche auf lokaler Ebene hatten eine Bedeutung und Verantwortung. Der Bialystok-Prozess relativiert dieses Urteil in gewisser Weise: Das Gericht bemühte sich, stand aber vor einer ungewöhnlichen Aufgabe und hatte nicht viel Unterstützung. Der Forschungsstand über die NS-Verbrechen in den 1960er Jahren war gering, die Gesellschaft und Politik im allgemeinen war nicht sonderlich an Aufklärung interessiert.

Das Buch nun, entstanden in eineinhalb jähriger intensiver Arbeit der drei AutorInnen, die allesamt aus der Geschichtsfakultät der Bielefelder Universtität kommen, liefert eine rechtsgeschichtliche Perspektive auf den Prozeß und die damit verknüpften Ereignisse in den Jahren 1942 und 1943. An dem Buch hat auch Sara Bender mitgewirkt, eine Historikerin aus Israel, die ebenfalls über Bialystok forscht, sowie Lorenz Schulz, Professor für Strafrecht an der Universität Frankfurt. Herausgekommen ist ein Buch mit spezifischem Gewicht: Wer ein populäre Abhandlung über die Deportation der Bialystoker Juden sucht, wird hier sicherlich nicht adäquat bedient. Das Buch ist wichtig, weil es die historischen Ereignisse mit der juristischen Aufarbeitung verknüpft und einen Prozeß an die Oberfläche zurückholt, der sonst wohl endgültig in Vergessenheit geraten wäre. So aber ist das Buch bedeutender Ausgangspunkt weiterer Forschungen über ein schreckliches Thema der jüngsten Zeitgeschichte. Es ist an der Zeit, neben dem zweifelsohne bedeutenden Auschwitz-Prozeß, dem in Frankfurt noch bis zum 23. Mai durch eine Ausstellung gedacht wird, auch andere Verfahren gegen NS-Verbrecher wie eben der Bialystok-Prozeß in Bielefeld näher zu durchleuchten.