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Bialystok in Bielefeld (12.05.2004)





Die Herausgeber: Freia Anders, Katrin Stoll und Hauke-Hendrik Kutscher




Von Manfred Horn

Der Historische Verein hatte am Dienstag Abend in die Kunsthalle geladen: Freia Anders referierte über die Verhandlung nationalsozialistischer Verbrechen vor dem Bielefelder Landgericht 1958 bis 1967. Grundlage des Referats ist das von ihr zusammen mit Hauke-Hendrik Kutscher und Katrin Stoll herausgegebene Buch ›Bialystok in Bielefeld‹, das Ende 2003 im Verlag für Regionalgeschichte erschien.

Damals wie heute ist das Interesse an dem Prozeß gegen einen Teil der natinonalsozialistischen Täter im Bezirk Bialystok mäßig. Bei den Recherchen zum Buch sprach die an der Universität Bielefeld promovierende Historikerin Anders auch mit einem der damals vorsitzenden Richter Günter Witte: Jeder Einbrecherprozess hätte mehr Zuschauer gehabt. Nur der in den Jahren 1963-1965 in Frankfurt stattfindende Auschwitz-Prozess wurde mit größerem öffentlichen Interesse wahrgenommen, weiterer Bedarf zur Klärung der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte bestand in den 1960er Jahren nicht, wie Freia Anders feststellt.

Dabei war der Bialystok-Prozess alles andere als klein: 227 Aktenordner Material waren zu sichten, 186 Zeugen wurden gehört. 40 der Zeugen kamen aus dem Ausland, zehn von ihnen wurden sogar an ihrem Wohnort vernommen, unter anderem in New York. Bevor es 1967 zum Schuldspruch gegen die vier Angeklagten kam wurde über ein Jahr verhandelt. Sie wurden zu Gefängnisstrafen zwischen fünf und neun Jahren verurteilt. Ein damals durchaus übliches Strafmaß. Das Urteil hielt auch einer Revision vor dem Bundesgerichtshof im Jahr 1970 stand. Herbert Zimmermann, der fünfte Angeklagte, der in Bielefeld wohnte und gegen den bereits 1959 vor dem Landgericht verhandelt wurde, entzog sich dem Prozeß durch Selbstmord.

Die Angeklagten waren als Leiter beziehungsweise Mitarbeiter der Dienststelle des »Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes für den Bezirk Bialystok« (KdS) an der Deportation der jüdischen Bevölkerung des Bezirks Bialystok in die Vernichtungslager beteiligt. Mit dem Bielefelder Bialystokprozess wurden Schreibtischtäter ins Visier genommen und zudem der bis dahin juristisch ausgeblendete Tatbestand der Deportation beleuchtet. Den angeklagten Kommandeuren wurde vom Gericht Beihilfe zum Mord an mehr als 30.000 Ghettobewohnern vorgeworfen.

Bialystok war die osteuropäische Stadt mit dem höchsten Anteil an jüdischen Bürgern, geschätze 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung. Während des Krieges wurde die Stadt von Wehrmacht und nationalsozialistischer Verwaltung besetzt und in Bialystok ein jüdisches Ghetto eingerichtet. Ab November 1942 begann dann die Deportation aus dem Ghetto in die Vernichtungslager. Die Ghettobewohner wurden in Wagons verladen und in die Konzentrationslager gebracht. Geschätze 100.000 jüdische Menschen wurden so zwischen November 1942 und Februar 1943 deportiert, die übriggebliebenen 30.000 Ghettobewohner im August 1943.