Webwecker Bielefeld: blattsobibor02

Die Flucht aus dem Vernichtungslager (Teil 2)





Die Schatten der Vergangenheit: Tobi Blatt von einem Schauspieler dargestellt in ›Escape from Sobibor‹ (rechts), im Vordergrund die Silhouette des echten Tobi Blatt



Anfang 1942 änderte sich die Situation schlagartig: Der Judenrat verkündete, 2.000 Juden, also die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Izbicas, solle sich auf dem Marktplatz versammeln. Es würde eine Umsiedlung stattfinden. Wer mitfahre, bekomme Brot und Marmalade. Im Hintergrund lief die Aktion Reinhardt an, durch die alle Juden in Polen ermordet werden sollten, einige von ihnen, nachdem sie zuvor noch als Arbeitssklaven genutzt wurden. Dazu standen ab 1942 die drei Todeslager Sobibor, Belzec und Treblinka zur Verfügung. Dort wurden Schätzungen zufolge in den kommenden Jahren 1,5 bis 1,7 Millionen Menschen ermordet wurden.

Blatt hörte früh von den Gerüchten, die angeblichen Umsiedlungen Richtung Osten endeten tatsächlich im Lager Sobibor. Klar war auch: Wer dort hinkommt, hat keine Hoffnung mehr. Seine Mutter organisierte seine Flucht nach Ungarn, doch die mißlang. So kam Blatt dann doch noch Sobibor.


Kann ein Schwalbennest ein Todeslager sein?

Dort war sein erster Gedanke: Dies kann kein Vernichtungslager sein. Es gab ordentliche Häuser mit schwärmerischen Namen wie Schwalbennest, die Straße zu den Gaskammern, die Blatt bei seiner Ankunft noch nicht kannte, nannten die Nazis »Himmelfahrtstraße«. Blatt trennt sich von seiner Mutter, er erkennt instinktiv, dass für ihn als 15-Jährigem nur eine Überlebenschance besteht, wenn er sich als Mann und nicht als Kind verkauft. Bei der Selektion hatte er Glück: Er wurde zum Sammeln von Tannenzweigen eingeteilt, später arbeitete er in der Kleiderkammer. Ihm war klar: Nur wer eine Arbeit hat, ist für die SS nützlich, nur so gibt es eine Chance, zu überleben.

Nach dem Krieg lebte Blatt zunächst in Polen, ging dann 1958 nach Israel. Dort lernte eine us-amerikanische Touristin kennen, die beiden heirateten und wohnen seitdem in Seattle. Blatt ist einer der letzten Zeugen eines einmaligen Aufstands in der nationalsozialistischen Geschichte: Nirgendwo sonst gelang eine erfolgreiche Revolte und Flucht aus einem Konzentrations- oder Vernichtungslager. Später, in den 1960ern, traf Blatt Karl Frenzel, einen SS-Wachmann in Sobibor, dem der Prozeß gemacht wurde. Vier Stunden redetete Blatt mit ihm, ohne Emotion. »Ich wollte die Ereignisse dokumentieren, er war eine wichtige Quelle«. Es ist ein hoher Grad an Selbstschutz, der ihm damals diesen Kontakt ermöglichte. Es ist der Wille zum Überleben, der ihn seinen Feinden kalt gegenüber treten lässt. Und Blatt hat gelernt, wie dünn »die Hülle unserer Zivilisation ist«. Unter bestimmten Umständen, ist sich Blatt sicher, wird der Mensch zur Bestie.


Von Thomas Blatt ist soeben erschienen: Sobibor, der vergessene Aufstand. Unrast-Verlag, ISBN 3-89771-813-8

Ebenfalls erhältlich das im Jahr 2000 veröffentlichte Buch: Thomas Blatt: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor. Aufbau-Verlag, ISBN 3-7466-8068-9

Eine kleine Gruppe aus Bielefeld reiste im vergangenen Jahr nach Sobibor in Polen, um den heute noch lebenden Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Sobibor persönlich zu begegnen und das Projekt ›250.000 Leben – eine Allee für die Opfer von Sobibor‹ zu unterstützen. Mindestens drei Menschen aus Ostwestfalen wurden in Sobibor ermordet. Mehr Informationen dazu in dem WebWecker Artikel