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Die Flucht aus dem Vernichtungslager (06.10.2004)





Tovi Blatt: »In Sobibor habe ich meinen Glauben verloren«




Am Montag war Thomas Blatt zu Besuch in Bielefeld. Rund 100 BesucherInnen kamen ins Theaterlabor, um ihm zuzuhören. Ihm gelang die Flucht aus dem Vernichtungslager Sobibor in Polen. Dort und in zwei weiteren Lagern brachten die Nationalsozialisten 1943 circa 1,5 Millionen Menschen um


Von Manfred Horn

Thomas ›Tovi‹ Blatt ist müde. Doch das merken nur die, die ihn besser kennen. Der 77-Jährige hat den Jetlag in den Knochen, kommt er doch gerade aus Seattle im Norden der USA. Dort lebt er. Doch einmal im Jahr im Oktober kommt er nach Europa, um Freunde zu treffen und vor allem an der Gedenkverstaltung zum Häftlingsaufstand im Vernichtungslager Sobibor teilzunehmen.

Blatt hat einen Auftrag, den er bis heute gewissenhaft erfüllt. Sascha sagte damals, am 14. Oktober 1943, zu ihm: »Wer den Aufstand überlebt, soll die Geschichte erzählen«. Sascha hieß eigentlich Alexander Pechersky, ein Offizier der Roten Armee, der in Sobibor wie alle anderen auch ermordet werden sollte, leitete den Aufstand zusammen mit Leon Feldhendler, einem ehemaligen Getreidemühlenbesitzer jüdischen Glaubens. An jenem 14. Oktober gelang tatsächlich 350 Häftlingen die Flucht, 53 überlebten das Ende des Krieges.


Nur eine kleine Gruppe wußte von dem Aufstandsplan

Tovi war damals 15 Jahre alt und einer der wenigen, die in den Aufstandsplan eingeweiht waren und eine Aufgabe hatten. Die Gruppe machte sich daran, die SS im Lager zu ermorden. Von 16 Uhr an, so erzählt Blatt, wurde im Durchschnitt alle sechs Minuten ein Angehöriger der SS ermordet. Als dann um 17 Uhr die Arbeitskolonne zurückkam, wurde sie vom Aufstand informiert. Bis auf einige orthodoxe Juden versuchten alle die Flucht. Die SS und die ukrainischen Hilfstruppen eröffneten das Feuer, viele kamen im Kugelhagel oder im Minenfeld hinter dem Zaun um. Die dramatische Situation ist in dem Film ›Escape from Sobibor‹ festgehalten, der 1987 entstand. Blatt hatte damals den Regisseur beraten und hält den Film, soweit ein Spielfilm eben Realität abzubilden vermag, für authentisch. (Eine Beschreibung des Aufstands liefert auch Jules Schelvis, vergleiche den WebWecker Artikel).

Blatt überlebte bis Kriegsende in den Wäldern Polens, schloss sich der polnischen Untergrundarmee an. Die Nazis schlossen Sobibor nach dem Aufstand und verwischten alle Spuren. Er hatte es als einziger seiner Familie geschafft, ihnen zu entkommen. Vater, Mutter und Bruder wurden in Sobibor ermordet. Tovi Blatt erzählt davon. Schon nach wenigen Minuten erhebt er sich, spricht seine eigene Mischung aus Deutsch, Jüddisch und Englisch im Stehen. Er ist konzentriert. Energisch setzt er die Arme ein, geht vorwärts und rückwärts. Seine Stimme und laut und klar, nur sein Körper zeigt die Anspannung, die er spürt, auch jetzt noch nach 60 Jahren, seine Geschichte zu erzählen.

Die beginnt 1927 in Izbica in Ostpolen. In dem kleinen Städtchen, 70 Kilometer entfernt von dem Sumpfgelände, auf dem die Nazis später mit Sobibor eines ihrer drei Vernichtungslager errichten, leben fast nur Juden. Als die Deutschen nach dem Überfall auf Polen und dem Hitler-Stalin Abkommen, das Izbica den Deutschen zuschlug, kamen, war es zunächst gar nicht so schlimm, erzählt Blatt. Ein Offizier gab ihm Zigaretten, als er ihm vorschwindelte, er habe eine 18-jährige Schwester. Als er ihnen dann eröffnete, er und seine Schwester seien jüdisch, schenkte ihm der Offizier auch noch Schokolade.