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Vom Stillen im öffentlichen Raum (06.04.2005)






Von Aiga Kornemann

Wenn biologische Notwendigkeiten und kulturelle Gepflogenheiten weit auseinander driften, treibt die Zivilisation wunderliche Blüten: Großer Andrang herrscht in einem Berliner Museum. Eine junge Mutter steht mit ihrem Säugling seit drei Stunden an, um in die Ausstellung zu kommen. Dann setzt sie sich auf eine Bank im Foyer und beginnt ihr Kind zu stillen. Eine Aufseherin weist sie darauf hin, dass sie das hier nicht dürfe. »Ich bitte Sie«, sagt die Mutter, »das schockt doch heute keinen mehr.« »Möglich«, entgegnet die Aufseherin: »Aber essen und trinken ist in der Ausstellung streng verboten.«

Vor zwei Wochen hat Schottland als eines der ersten Länder der Welt ein Gesetz zum Schutz des Stillens verabschiedet. Jetzt ist es in Schottland strafbar, eine Mutter daran zu hindern, ihr Kind an frei zugänglichen Plätzen zu stillen, also in Straßen, Parks, Ämtern, Gaststätten, Theatern, U-Bahnen und so fort. Hintergrund des Gesetzes seien der »Schutz des Rechts des Kindes auf Nahrung und die nationale Gesundheit«, begründet die Labour-Abgeordnete Elaine Smith, die den Entwurf ins schottische Parlament eingebracht hatte. Das Gesetz wurde mit großer Mehrheit verabschiedet. Nur einige Konservative mäkelten, dass es die Bemutterung der Bürger durch den Staat auf die Spitze treibe. Das Stillen sei ohnehin auf dem Weg, die künstliche Ernährung mit der Flasche abzulösen.


Still-Knick in den 70-ern

Weit gefehlt. In den USA liegt der Anteil der Kinder, die gestillt werden, insgesamt deutlich unter 50 Prozent. In Deutschland stillen drei Viertel aller Mütter ihr Baby in den ersten Monaten, nach einem halben Jahr sind es noch die Hälfte, nach einem Jahr mickrige zehn Prozent. Europaweit führt Norwegen die Stillraten an: Über achtzig Prozent der norwegischen Mütter stillen ihre Kinder weit über die ersten sechs Monate hinaus. Dabei hatte auch Norwegen in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen starken Rückgang beim Stillen zu verzeichnen.

Die moderne Geburtsmedizin mit ihren Hygienevorschriften und der damals üblichen Trennung von Mutter und Kind wird dafür verantwortlich gemacht, dazu kam massive Werbung der Babynahrungsindustrie, gepaart mit der Technikgläubigkeit ihrer KundInnen. Auch der wachsende Drang zu Berufstätigkeit, Karriere und Freiheit von Frauen habe damals die Einstellung zum Stillen verändert, sagt die norwegische Frauenärztin Gro Nylander von der Universitätsklinik Oslo.

Weitere historische Gründe sieht die Leiterin des norwegischen Nationalen Still-Zentrums in einer stillfeindlichen Haltung der katholischen Kirche, die Müttern über mehrere hundert Jahre empfohlen habe, ihre Kinder durch Ammen stillen zu lassen, um dem Ehemann zur »ehelichen Pflicht« zur Verfügung zu stehen. In den Augen der Kirche habe sich Sex mit Stillen offenbar nicht vertragen. Protestantische oder pietistische Mütter hätten das Stillen dagegen als »religiöse Pflicht« angesehen. Vielleicht darum sei die Zahl stillender Mütter bis heute in überwiegend katholischen Ländern deutlich niedriger, als im protestantischen Deutschland oder in Skandinavien, vermutet Nylander.


»Komisch, sexy, spielerisch und elegant«

In England kursieren Gerüchte, langes Stillen mache Kinder homosexuell, in Deutschland warnen Stillgegner vor Schadstoffen in der Muttermilch, in den USA wird sexueller Missbrauch gewähnt, stillt eine Mutter ihr Kind übers erste Lebensjahr hinaus. Was ist dran an dem Stoff, aus dem die Zivilisation Legenden mixt? Muttermilch sei vollwertig, enthält Nährstoffe, Vitamine, Mineralstoffe, Enzyme, Hormone, Abwehr- und Schutzstoffe in genau der Menge und Zusammensetzung, die neue ErdenbürgerInnen brauchen, lobt die Stillbewegung. Stillen sei komisch, sexy, spielerisch und elegant.