Webwecker Bielefeld: altersdemenz

Vergesslich und orientierungslos (28.09.2005)





Barbara Erdmeier am Bett ihrer Mutter Erna Kerzel. Seit zehn Jahren lebt die an Demenz erkrankte 91-Jährige im Jochen-Klepper-Haus. Foto: Werner Krüper


»Sie erkennt mich schon seit Jahren nicht mehr«, sagt Barbara Erdmeier und es liegt kein Vorwurf in ihrer Stimme. Die 52-jährige ist didaktische Koordinatorin am Weser-Gymnasium in Vlotho und kommt fast täglich ins Jochen-Klepper-Haus an der Rappoldstraße in Bielefeld-Schildesche, dem gerontopsychiatrischen Dienstleistungszentrum im evangelischen Johanneswerk. Hier wohnt ihre Mutter Erna Kerzel, fast 92-jährig, seit zehn Jahren. Erna Kerzel ist an Altersdemenz erkrankt.

Eine Million Menschen leiden in Deutschland an Demenz. Demenz-Erkrankungen wie Alzheimer zerstören schleichend die Leistungsfähigkeit des Gehirns; es kommt zu komplexen neurologischen Störungen. Symptome sind: Persönlichkeitsveränderungen, Verlust der intellektuellen Fähigkeiten, Störungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, Probleme beim Sprechen und Verstehen, Verlust der Rechen- und Schreibfähigkeit.

»Es begann, als mein Vater 1991 starb«, erinnert sich Barbara Erdmeier. »Ihr Zeitgefühl ging verloren, sie war nachts oft auf und wenn ich mich zurück erinnere, aß sie auch schon nicht mehr richtig.« Doch alles Bitten, sich helfen zu lassen, schlug fehl. Mutter Erna Kerzel wollte unbedingt selbstständig bleiben. Ihre zweite Tochter zog in ihr Haus und versorgte sie. 1994 dann verletzt sie sich selbst so stark, dass Barbara Erdmeier eine schwerwiegende Entscheidung fällt: Sie lässt den Arzt kommen das Gericht ordnet eine Zwangseinweisung an. »Ich hatte einfach große Angst um ihre Sicherheit und auch um ihr Leben.« Im Krankenhaus werden die nötigen Tests gemacht, die Demenz in ihren typischen Ausprägung festgestellt.

Tochter Barbara lebt mit ihrer Familie – Mann Rolf und ihren vier Kindern – in einem Haus in Bielefeld. An der Pflege ihres Vater war sie schon beteiligt. Jetzt trifft die Familie wieder die Entscheidung: Wir holen unserer Mutter und Großmutter zu uns. »Wir haben das Haus auf ihre Bedürfnisse hin umgestaltet und waren eigentlich ganz guter Dinge, dass wir das hinkriegen.« Drei Wochen haben die Erdmeiers das durchgehalten. »Bis neun Uhr abends ging es, doch dann war meine Mutter so unruhig, laut und unberechenbar, dass wir mit unseren Kräften am Ende waren«.


Immer in Bewegung

Der gestörte Tag-Nach-Rhythmus ist ein typisches Erscheinungsbild bei Demenzkranken, auch der starke Bewegungsdrang. »Ich fand sie nachts oft im Nachthemd auf der Straße wieder.« Als die Großmutter auf ihre eigenen Enkelkinder losgeht, zieht Tochter Barbara einen Schlussstrich. »Unsere Kinder waren natürlich verschreckt und durcheinander«, erinnert sie sich. Eine Oma, die einfach da ist, Märchen vorliest oder von »alten Zeiten« erzählt, so haben sie Erna Kerzel nie kennen gelernt.

Barbara Erdmeier hatte die Wahl zwischen zwei Einrichtungen für Demenzkranke in Bielefeld. Für ihre Mutter fand sie einen Platz im Jochen-Klepper-Haus des Johanneswerks. »Die Menschen, die zu uns kommen, befinden sich meist im zweiten Stadium der Demenz«, erklärt Uwe Scholz-Giesen vom Sozialdienst des Hauses. In der ersten Phase versuchen viele Menschen ihre Defizite wie Vergesslichkeit und Orientierungslosigkeit noch zu verheimlichen. Sie sind eher vorwurfsvoll anderen gegenüber oder ziehen sich komplett aus ihrem Umfeld zurück.

In der zweiten Phase muss sich hingegen die Umwelt auf die Bedürfnisse des Kranken einstellen. »Die motorischen Fähigkeiten lassen nach, das Sprachvermögen leidet und unsere Bewohnter haben keine Vorstellung mehr von ihrem Zuhause«, sagt Uwe Scholz-Giesen. Der Bezug zu Materiellem und Zeitlichem gehe verloren, dafür würden Beziehungen und Gefühle umso bedeutsamer.