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Ambivalenzen inklusive (Teil 3)






Dies war der Anstoß. Sie beginnt, ein Hörspiel zu schreiben, aus dem später auch ein Buch entsteht: ›Die Passagierin‹. Der junge, in Polen bekannte Regisseur Andrzej Munk macht aus dem Stoff Anfang der 1960er Jahre einen Kinofilm, der sogar in Cannes preisgekrönt wird. »Durch das Schreiben habe ich mich Stück für Stück befreit«, blickt sie heute zurück. In dem Roman beschreibt sie den Lageraufenthalt aus der Perspektive einer Küchenchefin: Anneliese Franz.

Der wäre sie im echten Leben durchaus gerne noch einmal begegnet. Nicht – oder nicht nur – um sie anzuklagen. Um ihr auf gleicher Augenhöhe ins Gesicht zu sehen. Der Frau, die auch bei Selektionen an der Rampe dabei war, die über Leben und Tod entschieden. Der Person, die ihre Freundin in eine Strafkompanie versetzte, weil sie Brot schmuggelte. Nein, auch der Aufseherin, die »streng, aber anständig« war. Eine Ambivalenz, mit der Posmysz lebt. Sie will nicht alles und alle über einen Kamm scheren. Sie sieht die Vielschichtigkeit, auch wenn sie selber manchmal nicht weiß, was sie bedeutet. Sie weiß: Die Erfahrungen mit Franz und anderen hat sie unter Bedingungen gemacht, die alles andere als normal sind. Die Aufseherin hat ihr geholfen, Briefe an ihre Eltern zu formulieren, hat ihr Deutsch in den kurzen Mitteilungen, die zensiert einmal im Monat verschickt werden durften, korrigiert. Franz unterrichtete sie sogar ein bißchen, half ihr, die Deutschkenntnisse zu verbessern. Nachhilfe im Schatten der Gaskammern.

Wie hat sie die Jahre in den Konzentrationslagern überstanden? Zweifelsohne hatte sie Glück, sonst könnte sie heute nicht mehr Zeugnis ablegen, wäre nur noch ein bisschen Asche. Vergast, verbrannt, verweht. Die einen nennen es Zufall, die anderen Schicksal. Andere meinten zu überleben, weil sie besonders pfiffig waren. Weitere wenden den Sozialdarwinismus ins Theologische und sehen sich als auserwählt, vorherbestimmt zu überleben. Allen liegt aber nahe, das Unfassbare, dem eigenen Entrinnen, einen Grund zu geben. Woher die Kraft nehmen, die Tage zu überstehen?


Kraft aus dem Glauben an Gott

Posmysz windet sich, baut einen kleinen Balkon: »Darüber zu sprechen verbietet die Political Correctness«, ziert sie sich, um dann aber doch zügig eine Antwort zu geben: Der Glaube an Gott habe ihr geholfen. Sie kommt aus einem gläubigen katholischen Elternhaus, sie selbst glaubt bis heute ebenfalls tief. Als sie 1943 auf der Krankenstation liegt, vom hohen Fieber geschüttelt, weiß sie, sie kann nicht sterben: Weil sie die heiligen Sakramente noch nicht empfangen hat. Mindestens die letzte Ölung, eine Eucharistie und eine Buße fehlten, um in den Himmel wechseln zu können. Im Fieber träumt sie, wacht auf, sieht auf der Dachschräge einen Kelch stehen. »Dann dachte ich: Das heilige Sakrament kommt und ich werde sterben«. Am nächsten Morgen schlägt sie wider Erwarten die Augen auf – und das Fieber ist auf 38.5 Grad gesunken. »Ein Wunder«, ist sich Posmysz sicher.

In Auschwitz lebte Posmysz in Block 11, einer der besseren Baracken. Sie war aus Holz, und der ganze große Raum wurde durchzogen von einem Ofenrohr, an dem sich die Frauen wärmen konnten. Der Block lag in der Nähe der Rampe. Dort kamen nachts die Züge mit den Deportierten an. Vom Block aus war die Rampe nicht zu sehen, aber sehr wohl zu hören. Zunächst vernahm sie das Schnaufen der Lokomotive, dann folgten Schreie und Schüsse. Rabbiner stimmten das Kaddisch, ein Begräbnisgebet, an. Wenn die Züge kamen, war Blocksperre. Einmal ging sie dennoch nach draußen, und sah auch die schrecklichen Bilder zu dem, was sie viele Nächte nur gehört hatte. Sie sah, wie sich vor den Gaskammern lange Schlangen bildeten. 1,5 Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet.