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»Manchmal wie ein schlechter Kriminalroman« (19.04.2006)





Carsten Seichter: Jahrelang durchkämmte er Archive, nun ist sein Buch über die Nachkriegsgeschichte des Stalag 326 fertig


Von Manfred Horn

Die Zeit des Nationalsozialismus gilt inzwischen als gut erforscht. Die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime entwickelte sich dabei in den vergangenen vier Jahrzehnten: Die Kinder der Tätergeneration gingen ab 1968 auf Spurensuche. Carsten Seichter geht in seinem bei ›Papy Rossa‹ erschienen Buch ›Nach der Befreiung‹ einen Schritt weiter: Er nimmt die Nachkriegsgeschichte des Kriegsgefangenen-Lagers ›Stalag 326 VI K‹ bei Stukenbrock in den Blick.

Das Lager, in dem rund 300.000 vorwiegend sowjetische Kriegsgefangene registriert wurden, wurde von der Wehrmacht 1941 auf dem Truppenübungsplatz Senne errichtet. Am 2. April befreiten die US-Truppen die verbliebenen 10.000 Gefangenen. Geschätzte 60.000 Menschen überlebten das Lager nicht. Ausbeutung durch Zwangsarbeit und Auszehrung durch Hunger waren tödliche Waffen. Seuchen kamen hinzu. Auch wurden Lagerinsassen wegen angeblicher Arbeitsverweigerung erschossen oder ins Konzentrationslager Buchenwald verbracht.

Auf dem Gelände des Lagers entstand nach 1945 zunächst ein Internierungslager für NS-Führungskräfte und Menschen, die verdächtigt wurden, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Heute befindet sich dort eine Landespolizeischule. In unmittelbarer Nähe des Stalags liegt der Friedhof. Dort verscharrte die Wehrmacht und deren Helfer in Massengräbern die getöteten Kriegsgefangenen.

Nachdem das Lager am 2. April 1945 von us-amerikanischen Soldaten befreit worden war, begannen die Überlebenden unmittelbar mit der Errichtung dieses Friedhofs. Innerhalb von nur einem Monat errichteten befreite Gefangenen einen Obelisken auf dem Friedhof, der bis heute an die Toten erinnert.

»Verschweigen hilft nicht weiter, wenn der Rückblick in die Geschichte uns mit Staatsverbrechen konfrontiert«, sagt Arno Klönne, emeritierter Soziologieprofessor aus Paderborn. Starke Worte. Und doch sei dies genau die Devise, unter der das Buch von Seichter einer historische aufklärenden Lektüre dienen könne.

Seichter schaut auf die Ereignisse in den Jahrzehnten nach der Befreiung: Wie ging der Staat, die Gesellschaft mit dem ehemaligen Lager und dem Friedhof um? Dazu befragte er Zeitzeugen und wertete jede Menge Quellen aus. Er reiste zum Public Record Office in London, ein Scout sah sich im Washington National Archive um. Auch gab das Innenministerium nach einigem Hin und Her Akten des Verfassungsschutzes heraus. Die dokumentieren, wie schon die Anmeldung eines harmlosen Infostandes zum Gegenstand der Kriminalpolizei wurde.


Anmelden eines Infostandes landete beim Verfassungsschutz

Der Arbeitskreis ›Blumen für Stukenbrock‹, 1967 gegründet, hält bis heute das Gedenken an die Verbrechen im Stalag hoch. Er war auch schon in den 1970er Jahren aktiv. Als damals ein Mitglied des Arbeitskreises, ein Pfarrer, in Detmold einen Infostand anmeldete, der auf den Antikriegstag hinweisen sollte, meldete das zuständige Ordnungsamt die Personalien an das Landeskriminalamt. Die reichten die Daten an das Innenministerium weiter, schließlich gelangte der Vorgang auch in die Akten des Bundeskriminalamts. »Ich dachte, ich lese einen schlechten Spionageroman«, sagt Seichter. Aus den Akten geht auch hervor, dass Mitglieder des Arbeitskreises observiert wurden, bis hinein ins Privatleben.