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Streit um die Zahl der Toten (26.04.2006)



Von Manfred Horn

Opferzahlen sind ein sensibles Thema: Viele vertreten die Ansicht, jeder Tote ist einer zuviel. Doch gerade die Zahlen der Toten im 2. Weltkrieg umstritten. Es handelt sich um politisches Minengebiet. Wer die Zahl der Holocaust-Toten deutlich geringer veranschlagt als die sechs Millionen, gilt als rechter Geschichtsrevisionist.

Nun wird die Zahl der Opfer im Stalag 326, dem Kriegsgefangenenlager während der NS-Zeit nahe Stukenbrock, seit Jahren auf rund 65.000 geschätzt. So steht es auch am Obelisquen, dem Mahnmal, dass die Häftlinge kurz nach ihrer Befreiung auf dem Friedhof errichteten. Von dieser Opferzahl geht auch der Aktionskreis ›Blumen für Stukenbrock‹ aus.


15.000 statt 65.000?

Mit der Veröffentlichung von Carsten Seichters Buch ›Nach der Befreiung‹ (WebWecker berichtete), indem sich der Autor auch in einem Kapitel mit dem Streit um die Zahl der Opfer auseinandersetzt, hat sich nun der Historiker Reinhard Otto zu Wort gemeldet: Die Opferzahl, von der auch Seichter ausgeht, sei viel zu hoch. Ottos Stimme hat Gewicht, leitet er doch die Dokumentationsstätte Stalag 326. Otto geht nach jahrelangen Recherchen von 15.000 Opfern im Stalag 326 aus. Ein erheblicher Unterschied von 50.000.

Er stützt sich dabei auf die Registratur der Wehrmacht: »Wer eingetragen wurde, musste auch wieder ausgetragen werden«, sagt er. Listen von damals sind erhalten geblieben, Kopien liegen Otto vor. Die Aufzeichnungen geben für den 10. März, also kurz vor der Befreiung des Lagers, eine Totenzahl von 14.666 an. »Das 50.000 Gefangene ermordet und dann schwarz bestattet wurden, kann ich mir nicht vorstellen«, sagt Otto. Auch die befreiten Gefangenen hätten kurz nach Kriegsende eine Statistik angelegt. Diese lagere im Moskauer Staatsarchiv. Sie komme zu der gleichen Summe von Toten. Zwar seien dies »unterschiedliche Quellen«. Otto räumt aber ein, dass das sogenannte Befreiungskomitee wohl die Listen der Wehrmachts-Registratur zur Grundlage genommen habe.

Somit handelt es sich genau genommen um eine Quelle, auf die sich Otto stützt. Das ist Carsten Seichter zu wenig: »Ich würde mich als Historiker nicht nur auf eine Quelle stützen«. Seichter geht nach wie vor davon aus, dass die Zahl 65.000 richtig ist. Otto fordert Seichter und den Arbeitskreis ›Blumen für Stukenbrock‹ nun auf, ihrerseits Quellen für diese Zahl zu nennen. Die kann Seichter nicht anbringen. Er wie auch der Arbeitskreis stützen sich einerseits auf die Angabe auf dem Obelisquen. Andererseits aber auch auf Augenzeugen, die berichten, das oft zweimal täglich ein Leichenwagen aus dem Lager herausgerollt wurde. Auch habe der damalige Pfarrer von Stukenbrock von »verheerenden Zuständen« im Lager berichtet.

»Die Kriegsgefangenen hätten unglaubliche Überlebenskünstler gewesen sein müssen«, sagt Seichter mit Blick auf die niedrige Totenzahl nach der offiziellen Wehrmachts-Registratur. Sanatoriumsähnliche Zustände habe es im Stalag 326 nicht gegeben. Von den rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand haben über die Hälfte nicht überlebt. Hiervon geht die Geschichtswissenschaft heute aus. Außergewöhnlich wäre dann, wenn im Stalag 326 nur rund jeder 20te Gefangene umgekommen wäre. Dies würde im Gegensatz zu den Todeszahlen in anderen Lagern mit gefangenen Sowjet-Soldaten stehen.

Otto ist sich der Gefahr, dass eine niedrigere Todeszahl von 15.000 politisch instrumentalisiert werden könnte, bewusst. »Doch was brauchen die Leute noch, um von dieser Zahl überzeugt zu werden«, fragt er. Ihm gehe es nur um die korrekte historische Darstellung. So wird der Streit um die Todeszahlen weiter gehen, der die ohnehin schwierige Erinnerungsarbeit an das Stalag 326 weiter belasten wird.