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»Protest gegen das Wiederaufleben des Faschismus« (06.08.2003)



Wildmann




























»Guten Tag!

Ich bin Aschichman, geb. Umrichina, Valentina Wassiljewna. Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen. Ehrlich gesagt war ich sehr überrascht. Es sind so viele Jahre vergangen, und keiner hat sich für unser Leben in Deutschland interessiert. Dann habe ich einen zweiten Brief bekom-men, in dem sie sich bei mir für die Antwort bedanken. Sie schreiben mir auch, dass Sie jetzt über-zeugt sind, dass ich wirklich nach Deutschland verschleppt war. So denke ich: Wozu brauchen Sie meine Briefe? Um zu erfahren, wie schwer wir gearbeitet haben, wie wir hungerten, wie man uns demütigte oder um selbst überzeugt zu werden, dass wir das alles wirklich erlebt haben?

Erst war ich mir nicht sicher, und dann habe ich mich doch entschieden, mein Leben kurz zu beschreiben. Es ist für jeden sinnvoll, das zu lesen. Ich will, dass mein Brief als ein Protest gegen das Wiederaufleben des Faschismus verstanden wird.

Im April 1942 hat man mich, meine Freundinnen und andere junge Leute aus unserer Stadt gesammelt, registriert und zu einem Sammelplatz getrieben. Alles geschah plötzlich. Mich hat man direkt vom Wochenmarkt abgeholt. Wir haben schon verstanden, was es bedeutete, aber wir konnten leider gar nichts ändern. Unter uns war sogar eine schwangere Frau. Also wir waren die nächste Fracht nach Deutschland. Meine Mutter, Umrichina Anastasja Iwanowna, hat es erfahren und hat zu Hause schnell meine Sachen gepackt und ist zum Sammelplatz gekommen. Wir waren schon fort. Man hat uns zum Bahnhof getrieben. Von allen Seiten rannten weinende Eltern herbei. Sie schrien: »Warum haben Sie unsere Kinder gesammelt? Wohin?«. Keiner hat ihnen was gesagt, nur: »Arbeiten.«

Auf uns warteten Güterwaggons, in denen außer Stroh nichts war. Man hat uns erlaubt, der Reihe nach von den Verwandten Abschied zu nehmen. Man hörte nur Schreien und Weinen. Meine Mutter rannte sehr lange hinter dem Zug her. Sie wusste nicht, ob sie mich noch irgendwann wiedersieht. Zwei Wochen vorher hat man meinen 14-jährigen Bruder mitgenommen. Unser Vater war alt, und nach all diesem konnte er nicht aufstehen und sich verabschieden. Wir waren 120 Leute im Waggon. Wir schliefen wie Vieh auf dem Boden und haben weder Wasser noch Essen bekommen. Die Schwangere hat um ein Stückchen Brot gebettelt, aber auch sie bekam nichts. Erst nach dem Grenzübergang haben wir Wasser bekommen. Wir sind in Przemysl in Polen angekommen. Da hat man uns in einen Waschraum geführt und uns medizinisch untersucht. Man hat uns in einem großen Haus untergebracht. Ich glaube, es war eine verlassene Fabrik. Die Unterbringung war wie im Güterwaggon, aber Wasser und schlechtes Essen bekamen wir. Später sind Käufer, die Besitzer einer Fabrik, gekommen und haben für jede von uns fünf Reichsmark bezahlt.