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»Vergessen kann ich nicht« (Schelvis; 11.02.2004)



Jules Schelvis
»Kein Tag vergeht ohne die Erinnerung«: Jules Schelvis über seine Zeit im Nationalsozialismus



Wie erzählt eigentlich jemand, der die Vernichtungslager der Nationalsozialisten überlebte, von dieser Zeit? Jules Schelvis jedenfalls tut es auf seine Weise: Ruhig, detailliert. An Stellen, die es zulassen, mit einer gewissen Ironie. Über 150 ZuschauerInnen waren am Dienstag Abend ins Theaterlabor gekommen, um Schelvis Erinnerungen zu hören.

















Von Manfred Horn

»Das Geheimnis der Versöhnung heißt erinnern. Zur Versöhnung bin ich bereit, vergessen kann ich nicht«, sagt Schelvis. Nach 1945 kehrt er zurück nach Amsterdam, wo er auch vor der deutschen Besetzung lebte. Er arbeitet in seinem alten Beruf, heiratet eine neue Frau. Ein ganz normales Leben. Er versucht zu vergessen. Es gelingt ihm, mehr oder weniger.

Dann, Anfang der 1980er Jahre geht der heute 83-jährige Schelvis in Pension. »Alles kam wieder hoch«. Er beginnt zu schreiben, stützt sich auf Notizen, die er bereits im April 1945 direkt nach seiner Befreiung machte, besucht häufig einen Prozess gegen SS-Täter, der in Hagen stattfindet. 1982 erscheint ein sehr persönliches Buch, seine Geschichte. Elf Jahre später folgt das Buch ›Vernichtungslager Sobibor‹, in dem er akribisch und wissenschaftlich das wohl unbekannteste Vernichtungslager der Nationalsozialisten – Sobibor – beschreibt (zur Geschichte Sobibors und des Aufstands dort siehe die WebWecker-Rezension zu dem Sobibor-Buch von Jules Schelvis).

Im Vernichtungslager Sobibor war er selbst nur wenige Stunden. Es war jedoch die erste Station einer langen, unfreiwilligen, grausamen Reise, die er nicht bestimmen konnte. Am 26. Mai 1943 wird er zusammen mit seiner Frau Rachel und weiteren Verwandten aus Amsterdam deportiert. Schon 1942 hatte im besetzten Holland eine große Polizeiaktion gegen alle Juden begonnen, die nur ein Ziel hatte: Holland judenfrei zu machen. Schelvis wusste davon, er und seine Frau tauchten zeitweise unter, in der Wohnung standen immer gepackte Rucksäcke. Schließlich konnte es jederzeit losgehen.

Was Jules und Rachel nicht wussten: Wohin die Reise geht, was die Nationalsozialisten mit ihnen vorhatten. Es war jenseits ihrer Vorstellungskraft. Als Jules Schelvis deportiert wird, nimmt er seine geliebte Gitarre mit, hütet sie auch während der dreitägigen Fahrt vom Sammellager Westerbork ins eroberte Polen. Im Wagon sind er und seine Frau zusammen mit 60 Anderen, im gesamten Transport über 3.000 Menschen. »Wir kamen um vor Durst. Unsere Notdurft mussten wir in eine Tonne machen. Es stank entsetzlich«. Drei Tage voller Verzweifelung und Streit enden an der Rampe von Sobibor, im heutigen Ostpolen. Damals lag es nahe der ehemaligen Demarkationslinie, die die Sowjetunion vom besetzten Polen trennte, ehe Hitler auch die Sowjetunion angriff.

Sobibor war unwirtliches Sumpfgebiet mit wenig Bevölkerung. Der ideale Ort für ein Vernichtungslager, dachten die Endlösungstrategen. So mussten dort Arbeitssklaven ein Vernichtungslager errichten, das nur ein Ziel hatte: Menschen sofort und an Ort und Stelle zu ermorden. Doch das sumpfige Gelände ließ auch immer wieder die Bahngleise absacken, so dass in Sobibor weniger Menschen ermordet wurden als eigentlich geplant.

Sobibór war wie Belzec und Treblinka eines der drei Vernichtungslager in Ostpolen, in denen im Rahmen der ›Aktion Reinhardt‹ in den Jahren 1942 und 1943 etwa 1,7 Millionen Juden getötet wurden. In Sobibor wurden von Mai 1942 bis Oktober 1943 annähernd 250.000 Juden ermordet.