Webwecker Bielefeld: schelvis02

»Vergessen kann ich nicht« (Teil 2)



Da steht Schelvis nun an der Rampe zusammen mit seiner Frau Rachel. Das Bahnhofskommando, das die SS aus gefangenen Juden zusammengestellt hatte, treibt alle 3.000 Menschen des Zuges heraus. Schelvis ist erschöpft, seine einzige Frage während der vergangenen Stunden: »Wie kommen wir aus dem stinkenden Viehwaggon raus« findet nun ein Ende. Er denkt immer noch, hier müsse er nun arbeiten. Nicht umsonst hätten die Nazis ihn und die anderen wohl 2.000 Kilometer mit der Bahn transportiert. Seine Frau Rachel ist noch an seiner Seite, als er in eine Baracke eintreten muss. Der Befehl: Alles Gepäck zu Boden werfen. Sein Rucksack liegt nun da, seine Gitarre – hölzerner Ausdruck seiner Naivität – wird schnell von anderen Rucksäcken begraben. Zuvor hat Rachel noch schnell ihre goldene Uhr in den Sand der Rampe gescharrt, sie ahnte bereits, dass diese ihr sonst gleich abgenommen werden würde. Sie sagt zu Jules: »Merk Dir die Stelle gut«.

Nach der Baracke war Schelvis ohne klaren Verstand. Er merkte gar nicht, wie ein SS-Mann Männer und Frauen trennte, die Frauen wegführte. Kein Wort, kein Kuss. Er sah Rachel nie wieder. Sie wurde in den Gaskammern Sobibors ermordet.

Schelvis selbst gelangt dann in ein Arbeitskommando. 80 Häftlinge sind dafür vorgesehen, Schelvis wird zunächst nicht dafür eingeteilt. Die SS will junge, kräftige Männer. Der SS-Mann betrachtet ihn kurz, tippt ihn aber nicht mit seiner Peitsche an. Dies wäre das Zeichen gewesen, sich auf die andere Seite zu stellen. Er wird mit der Masse der anderen Männer weggeführt.

Doch der Gedanke, zu den anderen zu gehören, gehören zu müssen, lässt ihn nicht los. Als der SS-Mann vorüber spaziert, ganz nahe an ihm vorbei, hebt Schelvis den Finger: »Ob ich mich wohl der anderen Gruppe anschließen dürfte?«, sagt er in seinem besten Deutsch. Der SS-Mann überlegt, es dauert Sekunden, dann nickt er. Es sind Einfälle und Zufälle wie dieser, die Schelvis als einzigen der 3.000 Deportierten, mit denen er zusammen in Sobibor eintrifft, überleben lässt. »Ich wusste natürlich nicht, was es bedeutet, zu der anderen Gruppe zu gehören. Ich dachte mir, die andere Gruppe würde zum Ordnungsdienst eingeteilt und das wäre besser. Im Nachhinein gesehen hätte es natürlich auch genauso die Gruppe sein können, die vergast wird«, erzählt er.

Die kalte Wirklichkeit war umgekehrt: Er kam ins Lager Dorahucza, die anderen wurden noch am gleichen Tag in den Gaskammern Sobibors ermordet. Im Lager Dorahucza mussten die Häftlinge unter brutalsten Bedingungen Torf stechen. Die ›Belegschaft‹ bestand aus 500 Juden, davon die Hälfte aus den Niederlanden. Viele der Häftlinge starben: entweder wurden sie selektiert und ins Vernichtungslager Sobibor verbracht, weil sie der SS zu schwach wurden, oder aber sie starben, weil sie sich im Sinne des Wortes ›zu Tode arbeiteten‹. Schelvis hat wiederum Glück: Weil der Drucker ist, wird er ins Ghetto Radom verschickt, von dort aus nach Auschwitz. Dort entgeht er zum zweiten Mal dem Vergasungstod.