Webwecker Bielefeld: algreform01

Junge Erwachsene zu Kindern zurückstufen (22.02.2006)





Inge Höger-Neuling: »Wir schaffen uns Probleme«



Die grosse Koalition im Bundestag hat am 17. Februar.eine Kürzung des Arbeitslosengeldes-II (ALG II) für Erwerbslose unter 25 Jahren verabschiedet. Diese erhalten künftig statt 345 Euro nur noch 276 Euro (WebWecker berichtete). Die Unterhaltskosten übernehmen die Kommunen nur noch bei schwerwiegenden sozialen Problemen – künftig wird der Fallmanager darüber entscheiden. Für diejenigen, die vor dem 17. Februar eine eigene Wohnung hatten, übernehmen die Kommunen die Miete aber weiter.

Die Bielefelder Initiative ›Abseits‹ sieht in der Entscheidung der Regierung weitreichende Folgen für die Gesellschaft: »Teile einer ganzen Generation werden im ›Hotel Mama‹ zur Unselbständigkeit erzogen«. Das Gesetz bedeute eine weitere Umschichtung der Verantwortung auf die Famlien. Jugendliche würden so zunehmend in kriminelle Karrieren gedrängt. Die Initiative fordert die sofortige Rücknahme der Änderung. Inge Höger-Neuling, Herforder Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, lehnt die Änderungen in einem Interview ab.



WebWecker: Die Ankündigung der Bundesregierung zur Absenkung von ALGII bei jungen Erwachsenen, verbunden mit einer Genehmigungspflicht bei Auszug aus der elterlichen Wohnung dürfte Sie und Ihre Fraktion auch überrascht haben.

Inge Höger-Neuling: Überraschend war nur der Zeitpunkt, nämlich kurz vor der großen Anhörung zum Thema Hartz-IV am 24. Februar im Bundestag, wo man sich überbessere Strategien im Sozial- und Arbeitsmarktbereich hätte austauschen können. Nur daran haben CDU und SPD offenbar kein Interesse. Sie preschen ohne Rücksichtsnahme auf die Meinungen von Kommunen, Verbänden und Trägern der freien Wohlfahrtspflege vor und versuchen, im Schnellverfahren Fakten zu schaffen.


Dass angesichts drastisch gestiegener Unterkunftskosten der ›Exodus‹ zahlreicher junger ALG-II-Empfänger der Großen Koalition ein ›Dorn im Auge‹ ist, war indes schon länger bekannt.

Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass wir die Hartz-Gesetzgebung als völlig verfehlt ansehen, zudem ist sie auch handwerklich schlecht umgesetzt. Was aber gar nicht geht, ist, junge Erwachsene quasi wieder als Kinder einzustufen und ihnen durch den Entzug der Unterkunftskosten ihre persönliche Lebensplanung vorzuschreiben.


Die vorgesehenen Maßnahmen dürften aber doch einer überschaubaren Personengruppe gelten.

Keineswegs. Was derzeit vergessen wird, ist, dass auch die Eltern von diesen Maßnahmen betroffen wären. Eine ReIntegration bereits ausgezogener Kinder in die elterliche Bedarfsgemeinschaft könnte massive Probleme zur Folge haben. Die zwangsweise Bindung junger Erwachsener an das Elternhaus kann zu erheblichen Spannungen führen, die an keinem der Beteiligten vorbeigehen.


Kann man denn Jugendlichen durch Kürzungen beim Lebensunterhalt und durch die Verweigerung von Unterkunftskosten überhaupt zwingen, zuhause wohnen zu bleiben?

Ich habe selber einen Sohn in diesem Alter. Wenn der sich entschließen würde – aus was für Gründen auch immer – zuhause auszuziehen, würde er sich durch eine solche Gesetzgebung davon nicht abhalten lassen. Aber damit wären wir beim Kern eines viel tiefer liegenden Problems. Wir sind geradewegs dabei, uns unsere Problembereiche der kommenden Jahrzehnte analog zu Frankreich und den USA selber zu schaffen. Billigquartiere, gefüllt mit jungen Menschen, die meinen, ohnehin keine Perspektive mehr in dieser Gesellschaft zu haben, zudem total unterfinanziert und nur mit dem Allernötigsten versorgt, werden zu sozialen Brennpunkten werden.