Webwecker Bielefeld: klimenko01

Auf dem Hocker an der Werkbank (15.09.2004)





Gebannte Schüler im Anblick persönlicher Geschichte:
Jehatarina Pereslijak (links) und Inna Klimenko (rechts) erzählen




Von Manfred Horn

Großer Auflauf im Haus 3 der Gesamtschule Stieghorst: Der komplette Jahrgang 13 und der Leistungskurs Geschichte der 12. Klassen haben sich versammelt, um die Lebensgeschichten von Jehatarina Peresljak und Inna Klimenko zu hören. Beide sind in Bielefeld, weil die Bielefelder Sektion des Vereins ›Gegen Vergessen, für Demokratie‹ sie zusammen mit der Stadt für eine Woche einlud. Für die beiden Frauen eine einmalige Gelegenheit, die Stadt zu sehen, in der sie unfreiwillig einen Teil ihrer Jugend verbrachten.

Peresljak ist heute 78, Klimenko 76. Als sie nach Bielefeld kamen, waren sie 13 beziehungsweise 15 Jahre alt. 1942 war das, nach dem das nationalsozialistische Regime den Krieg auch gegen die Sowjetunion eröffnet hatte. In den eroberten Gebieten begann die Selektion: Gerade junge Frauen wurden ins Deutsche Reich verbracht, dort brauchte man sie vor allem in der Rüstungsindustrie und in der Landwirtschaft.

Viele der Geschichten, die erst jetzt, gut 60 Jahre später, ans Licht der Öffentlichkeit kommen, beginnen im Viehwaggon. Er war das bevorzugte Transportmittel, wenn es um die Verschickung der jungen Menschen ging. Zusammengepfercht fuhren die jungen Menschen in eine ungewisse Zukunft. Auch Inna Klimenko kam in einem solchen Waggon, in dem sie nur aufrecht stehen konnte, weil kein Platz war, sich auch nur nach links oder rechts zu drehen. Ohne Essen, ohne Wasser erreichte sie die Reichsgrenze, wurde äußerst erniedrigend desinfiziert. Sie erzählt davon: »Wir wurden nackt ausgezogen, in einen Saal geführt«. Dort stand ein Deutscher in einem Gummimantel. Er hatte eine lange Stange in der Hand, neben ihm ein Fass mit Desinfektionsmittel. Er tauchte den Schwamm an der Spitze des Stocks in das Fass und bearbeitete damit die Genitalien. Sein einziger Kommentar: Dies sei notwendig, weil »ihr russische Schweine« seit.


Anker will von Besuch nichts wissen

Klimenko kam so mit 30 weiteren Mädchen aus ihrer Heimat in der heutigen Ukraine nach Bielefeld. In Bielefeld kamen sie zunächst ins Anker-Werk I, anschließend ins Anker-Werk II. Orte, die Klimenko heute noch einmal gerne gesehen hätte. Doch das heutige Anker-Unternehmen, das teilweise noch in den alten Fabrikhallen produziert, distanzierte sich: Man sei lediglich Rechtsnachfolger, wolle mit der Zwangsarbeit nichts zu tun haben. Folge: Eine Betriebsbesichtigung war für Klimenko nicht möglich.

Klimenko musste dann schuften in der Fabrik. »Ich war zu klein für die Werkbank. Sie haben mich dann auf einen Hocker gestellt«, berichtet sie. 12 bis 14 Stunden am Tag ging das so, ohne Ruhetage in Tag- und Nachtschichten. Der Betrieb differenzierte nicht zwischen Kindern wie Klimenko und Erwachsenen. Alle bekamen das gleiche dürftige Essen: Alle fünf Tage ein Stück Brot, gestreckt mit Sägespänen, ebenfalls auf fünf Tage 15 Gramm Margarine, einen Esslöffel Zucker, abends gab es dünne Steckrübensuppe. Das Bett mussten sich die ZwangsarbeiterInnen mit Wanzen und Läusen teilen, geschlafen wurde auf Sägespänen.


Auf der Flucht nach Hannover

Schon früh kamen die Gedanken an Flucht. Am 3. März 1943 dann gab es Freigang für zwei Stunden. Da setzte sich Klimenko zusammen mit einer Freundin in die Straßenbahn, fuhr zum Hauptbahnhof und weiter nach Hannover. Dort fielen gerade Bomben, Klimenko setzte sich mit anderen in einen Luftschutzbunker, wurde aber anschließend von Deutschen an die Hand genommen und zur Gestapo gebracht. Die Geheimpolizei der Nazis verhörte und schlug sie die ganze Nacht. Man wollte wissen, wo sie herkam. Klimenko schwieg, behauptete gar, sie sei aus Österreich und kam in ein Konzentrationslager in der Nähe von Braunschweig. »Es hieß Lager 21, weil hier niemand länger als 21 Tage überleben sollte«, erzählt sie.